Indien: Kalkutta: Kolonialer Glanz und krasse Gegensätze

Heute gemeinhin als die „Kulturhauptstadt Indiens“ bezeichnet, war Kalkutta von 1773 bis 1911 unter britischer Herrschaft die Hauptstadt Indiens. Wir nehmen Sie mit auf eine Reise durch das heutige Kolkata, dessen beindruckenden Denkmäler und Bauwerke von einer reichen Geschichte zeugen

„Kalkutta liegt am Ganges“ verkündete 1960 der Schlagersänger Vico Toriani in seinem Hit. Knapp daneben ist auch vorbei, denn tatsächlich liegt die indische Millionenmetropole am Fluss Hugli, einem 300 Kilometer entfernten Nebenarm des Ganges.

Trotzdem muss man sich fragen, ob es eine geheimnisvolle Verbindung zwischen dem Sänger und Kalkutta gibt. Immerhin spielt die englische Königin Victoria auch heute noch eine Rolle dort und die Silben ihres Vornamens ergeben den Namen von Vico Toriani.

Kolonie Britisch-Indien als Auslöser für Kalkutta

Eine Antwort auf diese Frage wird es wohl nie geben, denn die beteiligten Personen leben nicht mehr. Worauf es aber sehr wohl eine Antwort gibt, ist die Frage, warum Kalkutta in der heutigen Form überhaupt existiert. Der Grund dafür sind – wen wundert es – die Engländer. Ihre Britisch-Ostindien-Kompanie hat ab dem Gründungsjahr 1690 mit dem neuen Stützpunkt für den Aufschwung der Siedlung am Golf von Bengalen gesorgt.

Kalkutta
Etwa 14,85 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner leben in Kalkutta (Stand 2020)
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Denn bis dahin war das heutige Kalkutta noch ein kleines, unscheinbares Fischerdorf. Erst Anfang des 18. Jahrhunderts legen die Briten mehrere Dörfer zu einer Verwaltungseinheit zusammen und suchen nach einem Namen. „Kalikata“ liegt nah, denn immerhin wird das dort vorhandene Dörfchen schon 1495 erstmals von einem indischen Dichter erwähnt.

Kalkutta wird zu Kolkata

Was übersetzt „Schwarzes Tor“ oder „Tor der Göttin Kali“ bedeutet, hat bis heute großen Einfluss auf die Kultur und die Bedeutung der Siedlung am Golf von Bengalen. Außerdem erstaunlich: Die Erwähnung durch den Poeten scheint eine dauerhafte kreative Wurzel gelegt zu haben. Die Metropole gilt als das Zentrum des indischen Kulturfilms und der schönen Künste in Indien. Die damaligen Briten entscheiden sich für den Namen „Kalkutta“.  Seit 2001 heißt die Stadt offiziell Kolkata.

Die britische Handelsniederlassung wächst. Ein Grund dafür ist der lohnende Opium-Export nach China. Zwar verlieren die Briten ihre Kolonie in Britisch-Indien im Juni 1756 durch den Angriff eines indischen Herrschers – aber nur kurz. Bereits ein Jahr später erobern die Briten das Territorium zurück und setzen fortan eindeutige Zeichen für ihren Anspruch in Indien.

Kalkutta wird Hauptstadt von Bengalen

Kalkutta wird 1773 offiziell zur Hauptstadt von Bengalen ernennt. Und sicher ist sicher: Bereits 1781 wird das heutige Fort William fertiggestellt. Grundlos, denn bis heute hat das achteckige Bollwerk mit den massiven Mauern nicht einen einzigen Schuss zur Verteidigung von Kalkutta abgegeben. Statt Angreifern von außen kommen Arbeitskräfte von außen.

Nandgaon im Rausch der Farben (18490)

Die Ostindienkompanie wirbt speziell britische Junggesellen für den exotischen Handelsplatz an und die Nachfrage ist groß. So groß, dass die nach Kalkutta strömenden Engländer eine eigene Bezeichnung bekommen: „Writers“ –die Schreiber. Unabsichtlich erschafft die Ostindienkompanie damit eine neue Form der Gesellschaft in Westbengalen und sogar die Grundlage für ein heute noch existierendes Gebäude.

Hochzeiten sorgen für neue Form der Gesellschaft in Indien

Das „Writers` Building“ wird als Unterkunft für die britischen Schreiber errichtet. Die einsamen Junggesellen bleiben nicht langen untätig und suchen zielstrebig nach Partnerinnen. In kürzester Zeit entstehen zahlreiche Ehen mit indischen Frauen: die Geburtsstunden einer völlig neuen euro-asiatischen Gesellschaft. Zu dieser Zeit leben geschätzt bereits mehr als 70.000 Menschen in Kalkutta.

Victoria Memorial in Kalkutta, Indien
Von allen Baudenkmälern ist das Victoria Memorial, einst zu Ehren von Königin Victoria von Großbritannien errichtet, das prächtigste Wahrzeichen der Stadt
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Kalkutta wird zur aufblühenden Metropole. Die Engländer errichten zahlreiche Prachtbauten, die Kalkutta den inoffiziellen Titel „Stadt der Paläste“ einbringen, heute immer noch stehen und lohnende Ausflugsziele sind. Dazu gehören

  • Court House
  • Government House
  • St. Pauls Cathedral
  • Writers`Building
  • St. Andrews Kirk
  • Victorias Memorial

Delhi wird neue Hauptstadt Indiens

Die Blütezeit von Kalkutta dauert bis ins 20. Jahrhundert an – ist dann aber schlagartig vorbei. Was ist passiert? Ganz einfach: Die Hauptstadt Indiens wird 1911 nach Delhi verlegt. Ein Grund dafür ist die schwindende Bedeutung von Kalkutta als Hafenstadt. Bereits 1869 wird der Suezkanal eröffnet und bringt neue Handelswege.

Gleichzeitig steigt Bombay – das heutige Mumbai – in der wirtschaftlichen Entwicklung auf und der lukrative Opiumhandel findet durch die Beschlüsse der ersten Internationalen Opiumkonferenz zu Eindämmung dieser Drogensucht ein Ende.

Zu der Zeit leben fast 900.000 Menschen in Kalkutta. Rund um das eindrucksvolle Zentrum der Stadt haben sich auch zu der Zeit schon viele arme Menschen angesiedelt, die in schlichten Lehmhütten wohnen:  die Grundlage für eine Entwicklung, die bis heute anhält.

Viele Zuwanderer strömen ins heutige Kolkata

Kalkutta ist mit rund 4,5 Millionen Einwohnern die siebtgrößte Stadt in Indien und Hauptstadt von Westbengalen – verzeichnet aber durch den unkontrollierten Zustrom von Zuwanderern eine starke Armut. In der Metropolregion sollen aktuell rund 15 Millionen Menschen leben. Der Zugang zu Trinkwasser ist problematisch. Hydranten, Kanalwasser oder Rinnsale nach Regen dienen als teilweise als Quelle dafür.

Das heutige Kolkata hat eine magnetische Wirkung auf Zuwanderer – vor allem durch die vielfältige Wirtschaftstruktur, die auch ungebildeten Arbeitskräften und Tagelöhnern eine Basis bietet. Zahlen aus dem Jahr 2014 bescheinigen der Metropolregion Kalkutta ein Bruttoinlandsprodukt von mehr als 60 Milliarden US-Dollar. Damit liegt die Stadt zu dem Zeitpunkt in Indien auf dem 3. Platz hinter Delhi und Mumbai.

Zu den stärksten Wirtschaftszweigen in Kalkutta gehören Industrien wie Juteverarbeitung, Papier, Chemie und auch Schiff- und Maschinenbau. Elektronikprodukte spielen ebenso eine Rolle wie Textilien aus Baumwolle und Seide oder Stahl- und Gummiprodukte. Durch das Outsorcing westlicher Unternehmen vor allem aus den USA wächst auch die Hard- und Softwareherstellung. Dienstleistungen wie internationale Callcenter sind inzwischen stark in Kalkutta vertreten sowie indische Banken und Konzerne.

Winter ist die beste Reisezeit für Kolkata

Bäume im Botanischen Garten von Kalkutta
Im Botanischen Garten von Kalkutta begann man mit importieren Samen aus China die Teepflanzen heranzuziehen, die sich in Regionen wie Assam entwickelten und diese berühmt machten
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Wer sich einen Eindruck über die Hauptstadt von Westbengalen verschaffen möchte, tut das am besten in den Monaten Dezember und Januar. Die Tagestemperaturen liegen um die 26 Grad Celsius und der sonst oft starke Regen hält sich in Grenzen. Das ist vor allem für die Outdoor-Aktivitäten wichtig und in Kalkutta gibt es lohnende Ziele.

Dazu gehört der  Botanische Garten in Shipur am Westufer des Flusses Hugli. Die fast 110 Hektar große Anlage aus dem Jahr 1786 bezaubert mit kleinen Seen, dem sehenswerten Orchideenhaus oder dem Herbarium mit der umfassenden Sammlung getrockneter  Pflanzen.

Hauptattraktion in der weitläufigen Anlage ist unbestritten der größte Banyanbaum der Welt. Der Luftwurzler hat sich im Laufe der Jahrhunderte so ausgebreitet, dass er heutzutage einen Umfang von sage und schreibe 420 Metern hat und aussieht wie ein kleiner Wald in sich.

Millionen Menschen passieren täglich die Haora-Brücke

Haora-Brücke
Die Haora-Brücke, auch Howrah Bridge genannt, ist ein architektonisches Meisterwerk
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Aber auch der Zoologische Garten mit exotischen Tieren wie dem Tigon – einer Kreuzung aus Tiger und Löwe – oder den weißen Tigern ist einen Besuch wert. Ebenso die Haora-Brücke als offizielles Wahrzeichen von Kolkata. Das 670 Meter lange Bauwerk gilt als die verkehrsreichste Brücke der Welt.

Jeden Tag fahren allein 60.000 Fahrzeuge über die Haora-Brücke und am Ufer wartet der größte Blumenmarkt Indiens – zwar staubig, aber mit betörend bunter Blütenvielfalt.

Kalkutta als Zentrum der schönen Künste und der Kultur

Kalkutta gilt nicht von ungefähr als das intellektuelle Herz Indiens. Hier finden sich mehr als 30 Museen und Theater, Kinos und Bibliotheken und vieles andere wie

  • Die indische Nationalbiblitothek
  • Das Indische Museum
  • Die Calcutta Gallery
  • Das Birla Planetarium als größte Einrichtung dieser Art in Asien
  • Filmzentrum Nadan mit Archiv, Bibliothek und Vorführraum
  • Theater- und Konzerthalle Rabindra Sadan

Einen Besuch ist auch der Kalighat-Tempel wert. Die schlichte Anlage aus Ziegeln stammt aus dem Jahr 1809 und der schwarzen Göttin Kali geweiht. Dadurch ist Kalkutta einer der wichtigsten Pilgerorte Indiens. Der Legende nach hat der Gott Shiva aus Wut über den Tod seiner Frau Sati ihren Körper mit seinem Sonnendiskus in 51 Stücke zerteilt, die überall in Indien vom Himmel fielen. Der kleine Zeh ist genau dort gelandet, wo heute der Tempel Kalighat steht.

Wenn auch die Kolonialzeit der Briten seit der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 vorüber ist, bleiben einige Dinge in Kalkutta doch bestehen. Dazu gehört auch das Victoria Memorial aus weißem Marmor. Das prachtvolle Gebäude wurde zu Ehren der englischen Königin errichtet und beherbergt heute ein Museum.

Zwar gab es mehrere Versuche, das Haus umzubenennen. Aber manche Dinge haben eben einfach Bestand und sind auf geheimnisvolle Weise irgendwie miteinander verbunden. So wie die Erinnerung an Königin Victoria, der Name von Vico Toriani und sein unvergesslicher Hit  – auch wenn Kalkutta gar nicht am Ganges liegt.

Nachrichtenquelle: geo.de

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