Nuklearunfall mit Folgen: Protokoll einer Katastrophe: Wie es zum Reaktor-Unglück von Tschernobyl kam

Als am 26. April 1986 das Kernkraftwerk von Tschernobyl in der Ukraine explodiert, ist das der Beginn des größten atomaren Unglücks der bisherigen Menschheitsgeschichte. Die Radioaktivität zieht mit dem Wind nach Europa. Die Folgen sind bis heute spürbar und messbar

Das Reaktorunglück von Tschernobyl im April 1986 gilt als bislang schwerster Unfall in der zivilen Nutzung der Atomenergie. Die Zahl der Toten – auch ausgelöst durch Folgeerkrankungen – ist bis heute weltweit ein Streitpunkt unter Expertinnen und Experten. Unbestritten ist jedoch der verhängnisvolle Ablauf im Atomkraftwerk von Tschernobyl, der überhaupt erst zu dem Unfall und dem Freisetzen der radioaktiven Strahlung führen konnte.

Kernkraftwerk in Tschernobyl sollte im April für Notfall getestet werden

Es ist früher Morgen am 25. April 1986, ganz genau 1.06 Uhr. Getestet werden soll ein Stromnotfall. Genauer gesagt, ob der Reststrom der auslaufenden Turbinen des Kraftwerks ausreicht, um die Zeit bis zum Anlaufen der Notstromaggregate für die Kühlung zu überbrücken – falls die externe Stromversorgung des Kernkraftwerks einmal ausfallen sollte.

In solch einem Fall sollte der Reaktor des Atomkraftwerks von Tschernobyl schrittweise heruntergefahren werden.

Notkühlsystem im Reaktor wird abgeschaltet

Um den simulierten Ausfall des externen Stroms und des Kühlsystems vorzubereiten, schaltet die arbeitende Schichtmannschaft das Notkühlsystem ab. Damit soll verhindert werden, dass bei einem Notkühlsignal während der bevorstehenden Simulation Kühlwasser in den Reaktor gepumpt wird.

Es ist 14 Uhr. Wegen des steigenden Strombedarfs gibt die Zentrale in Kiew die Anweisung, den Reaktor nicht weiter herunterzufahren. Das Fatale: Das Schicht-Team im Kernkraftwerk vergisst, das Notkühlsystem wieder zu aktivieren.

Katastrophe in Tschernobyl durch Kettenreaktion

Gegen 23 Uhr ist der Strombedarf gedeckt. Der Reaktor wird wie geplant weiter für die anstehende Notfall-Simulation heruntergefahren. Als um Mitternacht der Schichtwechsel ist, weiß niemand, dass das Notkühlsystem abgeschaltet ist. Unter anderem dieser tragische Umstand sorgt für eine Verkettung von Reaktionen im Reaktor, die letztendlich zur nuklearen Katastrophe führen.:

  • Durch einen Bedienfehler oder einen technischen Fehler sinkt die Leistung des Reaktors auf nur noch 1 Prozent der eigentlichen Nennleistung.
  • Der Betrieb des Reaktors ist laut Vorschrift unterhalb einer Leistung von 20 Prozent aus Sicherheitsgründen strikt verboten.
  • Die Nachtschicht lässt Steuerstäbe aus dem Reaktor hochfahren, um die Leistung wieder zu erhöhen. Das gelingt aber nur bis zu einem Wert von sechs Prozent. Statt den Reaktor wie erforderlich abzuschalten, wird der Betrieb aufrecht erhalten.
  • Die Turbineneinlassventile werden geschlossen. Das Notkühlsystem ist immer noch abgeschaltet. Warnsignale weisen auf das Missverhältnis zwischen Wasserstand und Druck hin. Die Mannschaft erhöht die Wasserzufuhr im Reaktor und verhindert damit die automatische Abschaltung. Die Simulation eines externen Stromausfalls soll immer noch durchgeführt werden.
  • Aufgrund der geschlossenen Turbinenventile steigt die Temperatur des Kühlmittels stark. Die Leistung des Reaktors steigt an. Das System fährt automatisch  mehr Steuerstäbe wieder in den Reaktor, um die Kernreaktion zu stabilisieren – was jedoch aus mehreren Gründen nicht gelingt.
  • Die Steuerstäbe fahren zu langsam ein, um die bereits laufende Reaktion im Reaktor noch zu regulieren. Der Schichtleiter löst die manuelle Notabschaltung aus.
  • Dadurch fahren jetzt alle Steuerstäbe gleichzeitig in den Reaktor ein – was angesichts der Konstruktion des graphitgesteuerten Kernreaktors und der Intensität der bereits laufenden Kernreaktion fatal ist.
  • Die Graphitblöcke an den Spitzen der Steuerstäbe sorgen kurzfristig für eine extreme Zunahme der Reaktionsleistung und stehen damit der Notfallabschaltung selbst im Weg. Die Stäbe fahren aus Sicherheitsgründen zunächst nicht tief genug ein, um die Kernreaktion zu stoppen
  • Das Kühlwasser, die Brennstäbe, die Steuerstäbe und das Graphit erhitzen sich extrem. Es kommt zu ersten Explosionen.

Radioaktivität steigt in die Atmosphäre auf

Dann entweichen Dampf, Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff durch Risse im Reaktor. Unter dem Reaktordeckel bildet sich ein hochexplosives Gemisch aus Knallgas und Wassergas – das sich vermutlich entzündet und durch die Explosion den 1000 Tonnen schweren Deckel des Reaktors zerstört.

Zurückgelassenes Spielzeug im verlassenen Tschernobyl
Mehr als 330.000 Menschen, die in unmittelbarer Nähe des Reaktors gelebt hatten, mussten evakuiert werden. Vieles mussten sie zurücklassen – Möbel, Spielzeug, Erinnerungsstücke
© Aleksey – Adobe Stock

Das Dach des Reaktorgebäudes im Block 4 ist ohnehin nur als reiner Wetterschutz ausgelegt. Nach den Explosionen liegt der Reaktor frei. Die Radioaktivität kann sich ungehindert ausbreiten, steigt in die Atmosphäre auf und zieht als radioaktive Wolke in Richtung Europa.

Radioaktive Strahlung in 1200 Kilometer Entfernung gemessen

Erst am 29. April, drei Tage nach der nuklearen Katastrophe, sprechen sowjetische Behörden von einem „Unfall im Kernkraftwerk von Tschernobyl“. Auslöser für die Nachricht ist vor allem eine alarmierende Meldung aus Schweden. Hier wird schon am 28. April auf dem Gelände des Kernkraftwerks Forsmark der Alarm wegen erhöhter Radioaktivität ausgelöst. Die eigenen Anlagen sind aber intakt. Die Windrichtung lenkt den Verdacht in Richtung Sowjetunion.

Inzwischen hat sich die radioaktive Wolke über weite Teile Europas verteilt. Skandinavien, Polen, Tschechien, Süddeutschland, Österreich, Norditalien: Der radioaktive Fallout regnet über den Ländern ab. Menschen, Tiere, Wälder, Pflanzen, Felder, Ackerböden – alles wird mit Radioaktivität belastet.

Auf den Milchtüten in Deutschland steht die aktuelle Belastung mit Cäsium 137, um die Menschen über den Strahlungswert zu informieren. Bei Regen flüchten die Menschen in die Häuser, stehen am Fenster und blicken besorgt in den Himmel.

Betonmantel nach Unfall im Atomkraftwerk

35 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl sind die Folgen immer noch zu spüren. Zwar hat die damalige sowjetische Regierung nach vergeblichen Löschversuchen des überhitzten Reaktormaterials einen Mantel aus Beton – Sarkophag genannt – über dem zerstörten Reaktorgebäude errichtet.

Damit soll verhindert werden, dass weitere Radioaktivität aus dem Explosionstrichter in die Umwelt gelangt. Auch die Dächer der verbliebenen Gebäude auf dem Gelände sowie der umliegenden Ortschaften wurden von Soldaten und angeworbenen Freiwilligen gereinigt, um die Strahlenbelastung zu minieren.

Bis zu 800.000 Liquidatoren sind in der Sperrzone im Einsatz

Im Volksmund werden sie „Liquidatoren – Beseitiger“ genannt, zusammen mit anderen Helfern gegen die radioaktive Strahlung in Tschernobyl, wie Feuerwehrleuten, Hubschrauberpiloten, Bergarbeitern und sogar Jägern. Sie haben mit gezieltem Abschuss von verstrahlten Tieren dafür gesorgt, dass sie die Helfer rund um das Katastrophengebiet nicht radioaktiv verseuchen.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden im ersten Jahr nach der Katastrophe rund 200.000 Aufräumarbeiter in Tschernobyl und Umgebung eingesetzt. Etwa 1000 Einsatzkräfte waren direkt nach dem Unfall im Einsatz. Sie sollen radioaktiver Strahlung zwischen 2 Gray und 20 Gray ausgesetzt gewesen sein. Ab 1 Gray kommt es laut Experten zur Veränderung des Knochenmarks und des Blutbildes. In den Folgejahren ist die Zahl der Liquidatoren in Tschernobyl laut WHO auf bis zu 800.000 Helfer gestiegen.

Bis zu 9000 Tote in der Ukraine und den Nachbarländern

Die WHO geht davon aus, dass im direkten Zusammenhang mit der Radioaktivität in Tschernobyl etwa 50 Menschen gestorben sind. In der Ukraine sowie angrenzenden Ländern wird mit rund 9000 Toten durch zusätzliche Krebs- und Leukämieerkrankungen gerechnet. Für Europa insgesamt geht die WHO bis 2065 von knapp 40.000 Toten aus, deren Krankheitsbild direkt mit der Katastrophe von Tschernobyl zu tun hat.

Wie das Leben in die Todeszone zurückkehrte (77)

Speziell für Deutschland rechnet das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit mit keinerlei direkten gesundheitlichen Auswirkungen bedingt durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Die mittlere Strahlenbelastung durch die aus Tschernobyl eingetragene radioaktive Strahlung wird mit 0,01 Millisievert (mSV) beziffert. Zum Vergleich: Die mittlere jährliche Strahlenbelastung durch natürlich Quellen und medizinische Untersuchungen liegt bei rund 4 mSV.

Pilze und Wildschweinfleisch mit Strahlenbelastung

Trotzdem aller Bemühungen zur Eindämmung der Strahlung in Tschernobyl ist die freigesetzte Radioaktivität aber immer noch allgegenwärtig. So können zum Beispiel Pilze aus dem Bayerischen Wald, dem Alpenvorland, den Alpen, Österreich oder Tschechien auch heute noch erhöhte Strahlungswerte aufweisen.Vom übermäßigen Verzehr wird in dem Fall abgeraten.

Auch Wildschweine gelten als besonders radioaktiv belastet. Sie graben mit Vorliebe Trüffel aus der Erde aus, die radioaktives Cäsium 137 aus der Katastrophe von Tschernobyl anreichern.

Neuer Atom-Sarkophag über dem Reaktor für zwei Milliarden Euro

Heute ist um das Kernkraftwerk von Tschernobyl immer noch eine Sperrzone mit einem Durchmesser von 60 Kilometern eingerichtet. Aus dem Gebiet wurden nach der Katastrophe rund 350.000 Menschen evakuiert und umgesiedelt.

Die Reaktorblöcke 1 bis 3 liefen in Tschernobyl nach der Katastrophe weiter und haben Kernenergie geliefert. Sie wurden erst zwischen 1991 und 2000 nach und nach vom Netz genommen. Und auch heute noch liefert Tschernobyl Strom – allerdings aus Sonnenenergie. Im Jahr 2019 eröffnete auf dem verseuchten Gelände ein erster Solarpark.

Sarkophag von Tschernobyl
Im November 2016 wurde ein neuer Sarkophag über den Unglücksreaktor gefahren. Ganze 36.000 Tonnen schwer ist die Hülle, die 100 Jahre halten soll
© Sved Oliver – Adobe Stock

Der Atom-Sarkophag über dem Block 4 in Tschernobyl ist im Laufe der Jahrzehnte brüchig geworden. Das Dach rostet, im Beton sind Risse, Wasser dringt ein. Mit internationaler Unterstützung wurde 2016 eine zweite Betonkonstruktion über den ursprünglichen Sarkophag gestülpt. Die Kosten: zwei Milliarden Euro. Der neue Schutzmantel soll 100 Jahre halten. Bis zum Jahr 2065 will die Ukraine den kompletten Unglücksreaktor demontieren und das radioaktive Material bergen und einlagern.

Aktuell geht das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) davon aus, dass die Strahlungsintensität rund um den Unglück-Reaktor extrem unterschiedlich sein kann: Von Werten um 2,5 Mikrosievert pro Stunde bis zu 200 Mikrosievert pro Stunde. Der Bereich ab 100 Mikrosievert gilt als gesundheitsgefährdende Grenze. Es wird deshalb von Reisen in die Region Tschernobyl abgeraten.

Besucher in Tschernobyl bekommen Geigerzähler

Trotzdem gibt es verschiedene touristische Portale, die Tagesausflüge nach Tschernobyl anbieten – zum Beispiel in das verlassene Dorf Prypjat nur fünf Kilometer vom Unglückreaktor entfernt. Im Reisepreis enthalten: Eigene Geigerzähler, die der Veranstalter am Ende der Tour aber erstaunlicherweise nicht zurück haben will.

Nachrichtenquelle: geo.de

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