Wehrloses Gemüse: Das Wegzüchten der Bitterstoffe hat seinen Preis – für Gesundheit und Ökologie

Steckt man einem Baby einen Löffel mit bitterem Gemüse in den Mund, folgt die Reaktion meist prompt: Der Brei wird ausgespuckt. Die Aversion gegen Bitteres hat zum Wegzüchten solcher Stoffe aus Pflanzen geführt. Das hat allerdings Folgen

Herbstzeit ist Erntezeit. Viele beliebte Gemüsesorten schmecken heute sogar besser als früher, weil die wenig schmackhaften Bitterstoffe nach und nach weggezüchtet wurden. Doch dieses Wegzüchten hat das Gemüse wehrloser gemacht – nun schmeckt es auch Fraßfeinden wie Nacktschnecken oder Pilzen besser.

„Mit manchen alten Sorten hätten Kleingärtner womöglich weniger Sorgen“, sagt Nicole van Dam vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig. Beim Weißkohl zum Beispiel gebe es eine Sorte, die zwar weniger bitter schmeckende Senfölglykoside enthalte, aber empfindlicher für den Befall mit Fadenwürmern (Nematoden) sei. Auch anderen Pflanzen wie Chicoree und Rosenkohl seien Bitterstoffe weggezüchtet worden.

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Von Seiten der Lebensmittelwirtschaft habe es vor allem zwischen den 1980er- und 2010er-Jahren fortwährende Bestrebungen gegeben, durch Züchtung und Anbaumethoden Bitterstoffe in Pflanzen zu eliminieren und mildere Sorten zu kreieren, heißt es von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). „So konnte beispielsweise durch ein Angebot milderer Biersorten und Biermixgetränke der seit 1980 stetig sinkende Pro-Kopf-Konsum von Bier teilweise durch die Gewinnung neuer Konsumentinnen und Konsumenten kompensiert werden.“

Generell seien Abwehrmechanismen bei vielen Sorten verloren gegangen, weil bei der Zucht lange vor allem auf die Optik geachtet wurde. „Wenn man den Pflanzen die Zähne zieht, muss man sie anders schützen“, erklärt van Dam. „Man braucht mehr Pestizide.“ Eine Ausnahme seien Bio-Sorten, bei deren Züchtung auch Wert darauf gelegt werde, dass sie mit wenig Pestiziden und Kunstdünger auskommen. Letzterer verstärke das Problem ohnehin noch: „Das Düngen etwa mit Kompost wirkt bei Pflanzen als Anregung für’s Immunsystem, dieses Training fehlt beim Kunstdünger.“

Weniger Bitterstoffe bedeuten mehr Pestizideinsatz

Auswirkungen haben die Stoffwechselwege für Bitterstoffe allerdings nicht nur auf die Abwehrkräfte und den Geschmack, wie van Dam ergänzt. „Die Produktion kostet die Pflanzen Energie, sie wachsen eventuell langsamer.“ Gärtner stünden vor Entscheidungen wie: Will ich die große, saftige Tomate mit wenig eigener Abwehr oder lieber die kleinere, etwas bittere, aber auch wehrhaftere, für die ich weniger Gift brauche?

Gerade mit der Notwendigkeit, den überbordenden Pestizideinsatz zu vermindern, werde bei der Züchtung aktuell wieder mehr auf natürliche Abwehrmechanismen geachtet. Selbst für Gemüse, in dem die enthaltenen Bitterstoffe wegen ihrer in seltenen Fällen vorhandenen Giftwirkung nicht erwünscht sind, gebe es Möglichkeiten.

Bei der Zucchini zum Beispiel könne man in Richtung bitterer Blätter und nicht bitterer Früchte züchten. „Bei der noch jungen Pflanze werden so Fressfeinde abgehalten und man muss weniger Pestizide einsetzen, und das auch erst, wenn die Früchte kommen.“

Bereits bei Föten kommt es zu Gewöhnungseffekten

In sozialen Medien zeigen etliche Videos Babys, die etwas Bitteres zum Probieren bekommen – und sofort angewidert das Gesicht verziehen. Und erst kürzlich zeigten Forschende, dass Babys bei Kohl-Aromen schon im Mutterleib ein weinendes Gesicht ziehen – während sie bei Karotten lächeln. Vermutlich komme es schon bei den Föten zu Gewöhnungseffekten, erläutern die Wissenschaftler der nordostenglischen Universität Durham in der Fachzeitschrift „Psychological Science“.

„Es gibt eine angeborene Aversion gegen bitter“, erklärt Maik Behrens vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München. „So wie es die Vorliebe für süß gibt.“ Babys vermeiden so, giftige Bitterstoffe aufzunehmen, und lernen dann im Verlauf des Erwachsenwerdens, welche bitteren Dinge sie bedenkenlos essen können und welche nicht.

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Zwar gebe es viele Gifte, die gar nicht bitter sind – wie das des Knollenblätterpilzes – und zudem zahlreiche harmlose bittere Stoffe, sagt Behrens. „Es gibt aber eben auch sehr viele sehr toxische Bitterstoffe.“ Zudem existierten krebserregende Bitterstoffe, bei denen eine Anreicherung im Fettgewebe ein Problem insbesondere bei regelmäßigem Verzehr sein könne.

Das Wirkspektrum der Bitterstoffe ist breit

Zu den in größeren Mengen giftigen Bitterstoffen gehören die mitunter – etwa bei versehentlicher Einkreuzung von Zierkürbissen oder Hitzestress – in Gurke, Melone, Kürbis und Zucchini vorkommenden Cucurbitacine. Für Aufsehen sorgte vor einigen Jahren der Fall eines 79-Jährigen, der nach dem Verzehr einer selbstgezogenen Zucchini starb. Der damit gekochte Gemüse-Mix habe furchtbar bitter geschmeckt, er habe ihn aber trotzdem gegessen, hatte der Mann den Ärzten gesagt. Seine Frau überlebte. Generell sind derartige Todesfälle äußerst selten. „Die Dosis macht das Gift“, sagt Behrens.

Artischocken, Hopfen, Enzian, Endivie, Chicorée, Radiccio, Löwenzahn – etliche Pflanzen enthalten Bitterstoffe, wie es von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung heißt. Das Wirkspektrum sei breit und reiche von gesundheitsfördernd bis toxisch oder gar tödlich.

Was genau sind eigentlich Bitterstoffe?

Die unter der Bezeichnung Bitterstoffe zusammengefassten Substanzen sind keine chemisch einheitliche Gruppe. Gemeinsam ist ihnen lediglich, dass sie die für „bitter“ zuständigen Sinneszellen aktivieren, wie Behrens erklärt. 25 Bitterrezeptoren seien bisher bekannt, in den einzelnen Rezeptorzellen seien jeweils vier bis elf davon aktiv.

Zudem fanden Forschende heraus, dass es Bitterrezeptoren keineswegs nur im Mund gibt, sondern auch in vielen anderen Körpergeweben, selbst im Herz und im Gehirn. Im Magen-Darm-Trakt seien sie an Prozessen wie der Magensäure-Produktion und der Freisetzung von Hormonen, im Dickdarm an der Entstehung von Durchfall als Abwehrmaßnahme des Körpers beteiligt, so Behrens.

Der fünfteGeschmack

In den Atemwegen sorgen Bitterstoffe demnach für die Freisetzung gegen Bakterien wirkender Substanzen. Die Bewegung der Flimmerhärchen in der Lunge werde beschleunigt – und Partikel wie Bakterienzellen schneller hinaustransportiert.

Herausgefunden hätten Wissenschaftler zudem, dass bestimmte Bitterstoffe die glatte Muskulatur der Bronchien entspannen, die dadurch erweitert werden, sagt Behrens. „Dieser Effekt lässt sich eventuell für Medikamente gegen Asthma nutzen, die womöglich besser als die bisher verwendeten wirken.“ Viele weitere Funktionen in den einzelnen Geweben seien bisher noch gänzlich unklar.

Verbreitet genutzt wird ein schon sehr lange bekannter Effekt: Bitterstoffe können offenbar sowohl appetitzügelnd als auch appetitanregend wirken – was ein Grund dafür ist, dass Aperitif oft eine bittere Note hat. Daran stören sich Konsumenten meist keineswegs, ähnlich wie beim Kaffee oder den in Mode gekommenen Craft-Bieren mit ihren deutlichen Bitteraromen. Auch Rosenkohl, Chicorée, Radicchio und Bitter Lemon sind in der europäischen Esskultur etabliert, wie die DGE erklärt.

„Die meisten Menschen verziehen beim ersten Probieren von Kaffee zwar angewidert das Gesicht, aber die positive Erfahrung – Koffein macht mich wach – überdeckt das nach und nach“, erklärt Behrens. Gewöhnung spiele auch bei den anderen Lebensmitteln eine Rolle, beim Bier etwa – im Norden würden traditionell eher bittere Sorten bevorzugt. „Es gibt eine Toleranz gegen bitter, die von der eigenen Einstellung und Erfahrung abhängt.“

Neuerdings erlebt Bitteres ein Comeback

Die Geschmackskomplexität von Speisen erhöhe sich, wenn zum Beispiel neben süßen Eindrücken auch Bitternoten hervortreten, etwa bei Zartbitterschokolade, erklärt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Neuerdings erlebe Bitteres ohnehin ein Comeback, was sich nicht nur am Biersortiment des Einzelhandels nachvollziehen lasse.

Erkenntnisse aus Studien trügen zum auflebenden Interesse bei. „Es mehren sich Hinweise auf vielfältige, gesundheitlich positive Effekte von Bitterstoffen, wenn sie in der Lebensmittelmatrix – zum Beispiel als sekundäre Pflanzenstoffe in Gemüse und Obst – vorkommen und nicht isoliert (und gegebenenfalls hochkonzentriert) verzehrt werden.“

Eine Gruppe, die etwa in Hülsenfrüchten, Kräutern wie Rosmarin und Salbei sowie Hafer vorkommenden Saponine, bilden demnach im Magen-Darm-Trakt mit Cholesterin und Gallensäuren unlösliche Komplexe. „Dadurch tragen sie möglicherweise zu einer verminderten Cholesterinkonzentration im Blut bei“, so die DGE. Möglicherweise gebe es zudem eine antikanzerogene und antibiotische Wirkung. In konzentrierten Dosen könnten allerdings auch toxische bis letale Wirkungen auftreten.

Die richtige Prise

Generell raten Experten von der Einnahme in Form von Nahrungsergänzungsmitteln ab, weil es für die Wirkung vielfach auf das Zusammenspiel verschiedener Substanzen und Stoffwechselwege der Pflanzen ankomme. „Gemüse und Obst ist immer besser als ein Nahrungsergänzungsmittel, betont auch van Dam. Und für viele Bitterstoffe sei noch gar nicht ausreichend bekannt, welche toxischen oder krebserregenden Wirkungen sie möglicherweise haben – die gezielt in Pülverchen oder Tinkturen einzunehmen, sei allein schon deshalb riskant.

Zu viel Schärfe kann ein Schock für den Körper und im schlimmsten Fall tödlich sein – gibt es auch ein gefährlich starkes „bitter“? Eine vergleichbare Schockwirkung gibt es nicht, manche der über tausend bisher erfassten synthetischen und natürlichen Bitterstoffe schmecken aber so extrem, dass selbst der größte Bitter-Fan sie meidet. Ein Beispiel ist Denatoniumbenzoat, das bei der Vergällung von Alkohol, zur Imprägnierung bei Kabeln und in Tinkturen gegen Fingernägelkauen zum Einsatz kommt, wie Behrens sagt.

Extrem bitter sei auch das Amarogentin des Gelben Enzians, das als Messstandard für bitteren Geschmack genutzt werde. Würde ein Gramm Amarogentin in 58 Millionen Litern Wasser gelöst, würde dieses noch bitter schmecken.

Nachrichtenquelle: geo.de

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