ÖPNV: 9-Euro-Ticket: Pro Bahn-Chef kritisiert "Unterkapazitäten" – und gibt Tipps

Verkehrsunternehmen und -verbände seien zur Idee des 9-Euro-Tickets nicht gefragt worden, beklagt der Bundesvorsitzende des Fahrgastverbandes Pro Bahn, Detlef Neuß. Es gebe schon jetzt Unterkapazitäten beim Personal, Material und Infrastruktur. Aber er sieht auch Chancen

GEO.de: Herr Neuß, ab Juni steigt Deutschland um auf Regionalverkehr und ÖPNV. Freuen Sie sich darüber?

Detlef Neuß: Wir freuen uns natürlich, dass mal jemand an die Fahrgäste in öffentlichen Verkehrsmitteln gedacht hat und nicht immer nur an die Autofahrer. Was wir allerdings kritisieren, ist, dass das von der Kapazität, vom Angebot her in der Kürze der Zeit nicht so umgesetzt werden kann, wie es die Fahrgäste gerne hätten, und wie wir es uns für die Fahrgäste vorstellen. Die Organisation des öffentlichen Nahverkehrs ist ein langwieriger und schwieriger Prozess. Wir haben schon ohne das 9-Euro-Ticket Kapazitätsprobleme. Sowohl beim Personal als auch beim Wagenmaterial und bei der Bahn-Infrastruktur, die über 25 Jahre vernachlässigt wurde.

Detlef Neuß ist seit 2016 Bundesvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn
Detlef Neuß ist seit 2016 Bundesvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn
© Pro Bahn

Haben Sie Sorge, dass das nach hinten losgeht?

Die Gefahr besteht. Wer das Angebot zum Beispiel in Ballungsgebieten ausprobiert, in Berlin, München oder auf der Rhein-Ruhr-Schiene, und über längere Zeit im Zug stehen muss, dicht gedrängt mit anderen, der gibt das vielleicht nach dem zweiten oder dritten Tag wieder auf, weil es ihm zu unbequem ist. Und es besteht natürlich auch die Gefahr, dass Bestandsfahrgäste, also Pendler, die wir jetzt schon haben, sich dann auch vom ÖPNV abwenden. Es wäre schön, wenn wir mehr Menschen in den ÖPNV bekämen, aber wenn wir Pech haben, passiert genau das Gegenteil.

Und was ist mit den erhofften langfristigen Effekten?

Der Punkt ist: Wenn die drei Monate vorüber sind, haben wir immer noch relativ hohe Preise bei den Monatstickets, volle Züge, Unterkapazitäten, Stau bei der Wartung. Übrigens kamen die Radreifen mancher Züge aus der Ukraine, nämlich von Asow-Stahl aus Mariupol. Die fehlen jetzt natürlich, und Ersatz ist nicht einfach zu beschaffen. Das sind alles Dinge, die man wissen und berücksichtigen muss, wenn man so was wie das 9-Euro-Ticket ins Leben ruft. Das wurde beschlossen, ohne die Verkehrsunternehmen, Fahrgastverbände oder andere Verbände zu fragen, die mit dem Regionalverkehr zu tun haben. Man hat gesagt, wir führen das ein, überlegt euch, wie ihr das umsetzt. Das hätte man umgekehrt machen müssen.

Aber die Idee „ein Tarif für alles“ ist doch charmant?

Ich höre oft das Argument, in Österreich funktioniere das mit dem 365-Euro-Ticket. Hier zahlen Sie für den kompletten öffentlichen Verkehr pro Jahr in einem Bundesland 365 Euro, im ganzen Land 1095 Euro. In Wien gibt es schon mehr Inhaber*innen solcher Tickets als Kraftfahrzeuge. Aber: Die Österreicher haben es eben umgekehrt gemacht. Sie haben den öffentlichen Personennahverkehr massiv ausgebaut, sie haben die Kapazitäten und die Bedingungen geschaffen – und dann die günstigen Tickets eingeführt.Sparen beim Zugfahren

Und was erwarten Sie für die Wochenenden?

Da haben wir dann die 9-Euro-Wochenendausflügler. Ein Beispiel: Man kommt von Mönchengladbach mit drei- bis viermal umsteigen zu den Externsteinen, die letzte Etappe mit dem Bus auf kurviger Strecke. Wenn der dann auch noch rappelvoll ist, dann kann das schon mal unangenehm werden. Und den Takt für Bahnen und Busse kann man nicht einfach erhöhen, denn dafür fehlt es an Personal und an Fahrzeugen. Wenn Ausflügler dann auch noch ihr Fahrrad mitnehmen wollen, besteht die Gefahr, dass dafür die Kapazitäten einfach nicht da sind.

Haben Sie Tipps für eine sinnvolle Nutzung des Tickets, zum Beispiel am Wochenende?

Fahrgästen würde ich raten, als Fahrziel nicht so populäre Ziele auszusuchen wie Sylt, Rügen oder Berchtesgaden. Was sehr gut funktionieren kann: mit dem Fernverkehr in schöne Städte reisen, zum Beispiel nach Erfurt, Magdeburg oder Nürnberg, und dann dort Sightseeing mit dem 9-Euro-Ticket im ÖPNV machen. Oder fahren Sie in die Natur. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es mehr als 3000 Naturschutzgebiete, deren Besuch sich lohnt. Und warum nicht erst mal googeln: Wo gibt es bei mir in der Nähe, im Umkreis von vielleicht zwei Fahrstunden, Dinge, die anzuschauen sich lohnt? Freilichtmuseen wie das Industriemuseum Hagen zum Beispiel erreicht man gut mit Bahn und Bus. Wenn man seine Ausflüge und Fahrten gut plant, kann man auch einen positiven Eindruck vom ÖPNV bekommen.

Haben Sie einen Wunsch an die Politik?

Dass wir nach Ablauf der drei Monate Tickets und Tarife bekommen, die denen in Österreich ähnlich sind, vergleichbar mit der BahnCard 100, nur dass wirklich der komplette Nahverkehr in den Städten mit abgedeckt ist. Damit man nicht erst ein Fahrgast-Abitur ablegen muss, um sich im Tarifdschungel zurechtzufinden. Das ist ja das, was die Leute am meisten abschreckt. Ich würde mir wünschen, dass man darüber mal nachdenkt.

Nachrichtenquelle: geo.de

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