Gewaltforschung: Wie der Krieg in die Welt kam
Bereits vor 10 000 Jahren begannen Menschen, sich vor Angreifern zu schützen. Denn zum ersten Mal häuften sie Besitz an – Dinge, auf die Konkurrenten ein Auge warfen
Es war ein Sieg der Diplomatie, als mehr als hundert Gesandte von Städten, Fürsten- und Königtümern aus halb Europa am 24. Oktober 1648 in Münster den Westfälischen Frieden unterzeichneten. Endlich war er vorbei, der Dreißigjährige Krieg. Zwischen fünf und acht Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren. Weite Teile Mitteleuropas, vor allem Deutschlands und Böhmens, lagen verwüstet. Mehr als die Hälfte der Häuser waren zerstört, überall herrschten Krankheit und Not.
Über drei Jahrzehnte hatten europäische Mächte erbittert um die staatliche und religiöse Ordnung im Heiligen Römischen Reich gekämpft. Einen so langen, so grausamen Krieg hatte Europa noch nie erlebt. Doch er war längst nicht die erste gewaltsame Auseinandersetzung, die den Kontinent heimsuchte. Immer ging es um: Macht, Ressourcen, Besitz und Religion.Geo Kompakt Nr. 70 – Meilensteine der Zivilisation – link
Der Schweizer Ethnologe Jürg Helbling definiert Krieg als „geplante und organisierte bewaffnete Auseinandersetzung zwischen autonomen Gruppen“. Damit bezieht er Kämpfe aus der Zeit ein, als es noch keine Staaten gab. Denn der Krieg kam schon in der Jungsteinzeit nach Europa – lange bevor dort komplexe, hierarchische Gesellschaften entstanden. Lange auch, bevor Menschen lernten, Erlebnisse und Erfahrungen aufzuschreiben. Daher ist man besonders auf die Archäologie angewiesen, um die frühen Konflikte zu deuten.
Vor rund 11 000 Jahren veränderte die Neolithische Revolution zunächst im Nahen Osten die Gesellschaft von Grund auf, mehr als drei Jahrtausende später erreichte die Veränderung auch Mitteleuropa: Die Menschen wurden sesshaft und betrieben auf dem Land Ackerbau und Viehhaltung, wo Jäger und Sammlerinnen zuvor Nahrung gefunden hatten. Sie begannen, Vorräte und Besitz anzuhäufen. Dinge, auf die Konkurrenten neidvoll ein Auge warfen.
Um Jericho im heutigen Westjordanland errichteten die Menschen bereits um 8000 v. Chr. eine Stadtmauer. Auch in Europa begannen Bewohner bald ihre Siedlungen zu sichern. Archäologen fanden in steinzeitlichen Gräbern Überreste von Männern und Frauen, die wohl bei Kämpfen zwischen Dörfern getötet worden waren. Lange droschen Menschen mit Ackergeräten aufeinander ein; im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sie weit effektivere Waffen: Streitäxte, Dolche, Reflexbögen.
Die nachfolgende Bronzezeit erlebte eine Evolution der Kriegführung. Und die erste nachgewiesene Schlacht in Europa. Die Wissenschaft datiert sie um das Jahr 1250 v. Chr. Nahe dem Ort Altentreptow in Mecklenburg-Vorpommern fanden die Archäologinnen und Archäologen im Tal des Flusses Tollense insgesamt 12 000 Knochen von 144 Menschen. Es muss ein furchtbares Gemetzel gewesen sein. In Schädeln klafften Löcher, wohl von Keulen geschlagen, in einem der Köpfe steckte noch eine Pfeilspitze.
Die Tollense war wohl eine wichtige Handelsroute und traf hier auf einen zweiten Fernhandelsweg. Karawanen nutzten die Routen, um Bronze, Glasperlen und andere Schätze vom Mittelmeer und aus dem Nahen Osten in den Norden zu bringen. Im Gegenzug gelangten Bernstein und möglicherweise Pferde in den Süden. Alles wertvoll – und begehrt. Den Angreifern ging es wohl um die Kontrolle der strategisch wichtigen Kreuzung, oder sie griffen willkürlich Händler an und raubten sie aus. „Möglicherweise waren bis zu 2000 Männer an dem Konflikt beteiligt“, sagt Detlef Jantzen, der Landesarchäologe von Mecklenburg-Vorpommern.
Es ist jedenfalls kein Zufall, dass diese erste Schlacht ausgerechnet in der Bronzezeit geschlagen wurde. Ihren Namen verdankt diese Epoche einer revolutionären Erfindung: Aus der Legierung von Kupfer und Zinn entstand ein leicht zu gießender, harter Werkstoff. Erstmals konnten Handwerker nun in großer Zahl Waffen herstellen, die dazu bestimmt waren, Menschen zu töten: Stabdolche, Schwerter, Lanzen- und Pfeilspitzen.
Im Laufe der Zeit wurden die Siedlungen größer, eine Oberschicht kontrollierte und verteidigte Ressourcen und Handelswege. Macht und Gier waren nun Grund genug, in den Krieg zu ziehen. „Wer ihn führen wollte, musste über eine Organisation verfügen, Menschen ernähren und ideologisch mobilisieren können“, sagt der Prähistoriker Svend Hansen vom Deutschen Archäologischen Institut, der sich seit Langem mit den Ursachen von Konflikten befasst. Zum ersten Mal verfügten Herrscher über professionelle Krieger. Wie gewalttätig diese Zeit in Mitteleuropa war, zeigen zahlreiche Befestigungen, die auf Hügelrücken angelegt waren. Dort suchten Menschen Schutz vor Raubzügen oder Überfällen.
Die frühen Hochkulturen zogen zu der Zeit längst ebenfalls in den Krieg: Im Jahr 1274 v. Chr. führte Pharao Ramses II. seine Truppen bei Qadesch im heutigen Syrien gegen die Hethiter, eine konkurrierende Großmacht. Der Kampf ist nur schriftlich überliefert – Archäologen fanden keinerlei Spuren. Doch der Krieg endete mit einem Abkommen, das als erster Friedensvertrag in die Geschichte einging. Wie er verhandelt wurde, ist unbekannt.Interview Kriesgverbrechen Ukraine
Dafür weiß man, wie es zum Westfälischen Frieden kam, knapp drei Jahrtausende später: Fast fünf Jahre stritten die Gesandten aus Schweden und Frankreich, Wien, Bremen und Böhmen in Münster und Osnabrück miteinander. In unzähligen Gesprächen und Gelagen gelang es ihnen schließlich, Vertrauen aufzubauen – Grundlage der Diplomatie auch in späteren Friedensverhandlungen. Der Krieg war da längst eine Konstante der Menschheit. Die geduldigen Männer zeigten, wie man ihn unter sehr schwierigen Bedingungen auch wieder beenden kann. Ein Sieg der Vernunft.
Nachrichtenquelle: geo.de
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