Ernährungsexperte Niko Rittenau: "Viele anti-vegan Argumente sind inhaltlich korrekt – und dennoch nicht valide"

In seinem neuen Buch zerpflückt der Ernährungswissenschaftler Niko Rittenau mit seinen Co-Autoren populäre Argumente gegen den Veganismus. Wir sprachen mit ihm über gereizte Fleischesser und die Zukunft der Ernährung

GEO.de: Herr Rittenau, wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, in einem Buch populäre Argumente gegen den Veganismus zu durchleuchten?

Niko Rittenau: Nach mittlerweile über acht Jahren veganer Ernährung habe ich gemerkt, dass in Diskussionen zum Thema Tierhaltung und Veganismus immer dieselben paar dutzend Scheinargumente vorgebracht werden. Sei es bei der Gartenparty am Grill, in den Kommentarspalten auf den sozialen Medien oder in Gesprächsrunden in Funk und Fernsehen. Eine Kollegin nannte das einmal scherzhaft „veganes Bullshit-Bingo“. Mit dem Buch wollte ich zum einen jenen Menschen, die diese Argumente vorbringen, ein sachliches, rationales und evidenzbasiertes Werk bieten, damit sie ihre Vorurteile selbstkritisch hinterfragen können. Zum anderen möchte ich vegan lebenden Menschen einen Gesprächsleitfaden an die Hand geben, mit dessen Hilfe sie diese Einwände entkräften und korrigieren können.

Welcher Einwand wird am häufigsten vorgebracht? Und wie entkräften Sie ihn?

Einer der häufigsten Einwände ist, dass eine vegane Ernährung unnatürlich sei, beziehungsweise, dass es natürlich sei, Fleisch zu essen. Die Natürlichkeit einer Sache ist allerdings oft schwer bestimmbar. Wie natürlich ist es zum Beispiel, Milch zu trinken? Oder Fleisch von Zuchttieren aus der Intensivtierhaltung zu essen? Zum anderen ist sie ohnehin kein Argument für oder gegen etwas. Zudem sagt der Grad der vermeintlichen Natürlichkeit nichts über den gesundheitlichen oder ethischen Wert einer Sache aus.

"Vegan ist Unsinn!" mit Texten von Niko Rittenau, Patrick Schönfeld und Ed Winters ist im Becker Joest Volk Verlag erschienen. 368 Seiten kosten 23,50 Euro
„Vegan ist Unsinn!“ mit Texten von Niko Rittenau, Patrick Schönfeld und Ed Winters ist im Becker Joest Volk Verlag erschienen. 368 Seiten kosten 23,50 Euro

Die Frage in Ernährungsthemen ist nicht, wie natürlich eine Ernährungsweise ist – sondern wie gesund, ethisch und umweltverträglich sie ist. Eine vegane Ernährung ist bei guter Kostzusammenstellung in jeder Lebensphase bedarfsdeckend, ist im Vergleich zu den allermeisten Arten von mischköstlichen Ernährungsformen deutlich umweltverträglicher – und erspart Milliarden von Tieren ein unwürdiges Leben und Sterben in der sogenannten Nutztierhaltung.

Veganer machen nur etwas mehr als ein Prozent der deutschen Bevölkerung aus. Warum beschäftigt sich der Rest eigentlich so engagiert damit, die Ernährungsweise einer absoluten Minderheit schlechtzureden?

Der Grund dafür ist, dass die Forderungen dieser Minderheit auf Dauer eine komplette Reform unserer Esskultur bedeuten kann und viele Menschen das bewusst oder unbewusst fürchten – und daher mit Ablehnung reagieren. Letztendlich passiert im Moment in Bezug auf den Veganismus genau das, was auch viele andere soziale Gerechtigkeitsbewegungen in früheren Zeiten erlebt haben: Zuerst wird das Anliegen ignoriert, dann belächelt, dann bekämpft und letztendlich wird es eine gesellschaftliche Norm. Aktuell befindet sich der Veganismus in der dritten Phase. Derartige gesellschaftliche Reformen gehen dabei stets von einer kleinen Gruppe engagierter Menschen aus …

… die allerdings wächst.

Wenn man sich die Wachstumszahlen innerhalb der letzten zehn Jahre ansieht, wird deutlich, dass der Veganismus eine der am schnellsten wachsenden sozialen Gerechtigkeitsbewegungen des 21. Jahrhunderts ist. Es liegt dabei in der Natur des Menschen, dass wir die langfristige Tragweite von technologischen und sozialen Entwicklungen unterschätzen und unnötig lange am Status quo festhalten. Dass eine tiefgreifende Veränderung im Mensch-Tier-Verhältnis stattfinden wird, steht meiner Ansicht nach fest. Es ist nicht die Frage ob, sondern wann das aktuell vorherrschende System sich von Grund auf verändern wird. Nahrung in Kapseln

Hand auf’s Herz: Welches Argument gegen die vegane Ernährung stimmt?

Bei vielen anti-veganen Argumenten lässt sich die interessante Beobachtung machen, dass diese inhaltlich auf den ersten Blick korrekt sind, dass sie aber dennoch kein valides Argument gegen den Veganismus darstellen. Ein gutes Beispiel ist die Aussage „Wir haben schon immer Fleisch gegessen. Das ist Teil unserer Kultur“. Das ist erstmal korrekt, aber es stellt in sich keine ethische Legitimierung dar und adressiert die Kernkritikpunkte an der aktuell vorherrschenden Mensch-Tier-Beziehung nicht.

Wir haben im Laufe der Menschheitsgeschichte viele Dinge „schon immer“ getan, und vieles davon war ein fester Bestandteil unserer Kultur. Dennoch haben wir uns im Lauf der Jahrhunderte von vielen ethisch nicht vertretbaren Normen und Handlungen verabschiedet, weil sich unsere Gesellschaft eben nicht nur technologisch, sondern auch ethisch weiterentwickelt und damit viele ethische Missstände für uns nicht mehr tragbar sind.

Und welches ist das Beste dafür?

Das beste Argument – und genau genommen das einzige Argument, das für eine konsequent vegane Lebensweise haltbar ist – sind die tierethischen Aspekte. Die ökologischen und weltgesundheitlichen Probleme der sogenannten Nutztierhaltung, zum Beispiel Zoonosen und Antibiotikaresistenzen, könnten einfach durch eine drastische Reduktion der Nutztierhaltung gelöst werden. Und das würde natürlich auch die Häufigkeit der Tierausbeutung reduzieren …

Wird es denn jemals ganz ohne Tierausbeutung gehen?

Ich bin optimistisch, dass wir weitreichende Veränderungen erleben werden, weil wir uns aufgrund von technologischen Innovationen zukünftig ohnehin nicht mehr für ein Stück Fleisch oder das Leben eines Tieres entscheiden müssen. Durch die zellbasierte Landwirtschaft ist es jetzt schon möglich, ein „echtes“ Stück Fleisch und andere tierische Produkte unabhängig vom Tier zu produzieren. So kann man theoretisch ein Stück Fleisch aus der Stammzelle eines Kalbs essen, während man dem Kalb beim Spielen zusieht. Die Technologie ist da. So können zukünftig alle gewinnen: Menschen können weiterhin Fleisch und andere tierische Lebensmittel nach Lust und Laune essen, die Umwelt leidet nicht mehr darunter – und die Tiere müssen nicht mehr ihr Wohlergehen unserem Konsum opfern.

Nachrichtenquelle: geo.de

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