Beziehungen: Vom Gefühl, gebraucht zu werden: Weshalb Großeltern heute so wichtig sind wie nie

Großeltern, die immer alles besser wissen – das war einmal. Heute sind Oma und Opa oft sehr enge Bezugspersonen für ihre Enkelkinder. Und eine wichtige Brücke in die Vergangenheit

Wann immer ich an meine Großmutter denke, geht automatisch eine Glastür auf, Gonga steht auf der Schwelle des Speisewagens, blauer Hut, weißer Mantel und in der rechten Hand ihr dunkelbrauner Stock, und ruft mit unerschütterlich guter Laune: „Schönen guten Morgen!“ Dieser Gruß, nachts um drei, verkündet mit einem 88-jährigen sächsischen Sopran, kam für all die gestressten Fahrgäste auf ihrer Odyssee durch ein Schweizer Unwetter damals so überraschend, dass für einen Moment die Dunstglocke aus Übermüdung, Zigarettenluft und dem Geruch von nassen Kleidern zu verschwinden schien.

Zwei Frauen lachten, und ein Mann sagte: „Da kommt ja endlich unser Schutzengel.“ Gonga antwortete: „Für so ein bisschen Regen brauchen Sie keinen Schutzengel“, durchschritt den Speisewagen und ließ die Fahrgäste allein mit ihrer schlechten Laune. Schließlich war sie auf der Suche nach einem Zugabteil für sich und ihren Enkel, der mit Rucksack und Handtasche hintendreinstapfte und sich längst nicht mehr wunderte über die Energie seiner Großmutter.

Ich hatte Gonga zum 88. Geburtstag eine Reise ihrer Wahl geschenkt. Sie hatte nicht lange überlegt: „Sehr schöne Idee, wir fahren nach St. Petersburg.“ Sie hatte mir oft schon von einem ihrer Vorfahren erzählt, angeblich ein Hofmaler Peters des Großen, der irgendwo in Russland verschollen sei. Sie wollte in die Archive und forschen. Dass es uns stattdessen in ein Schweizer Unwetter verschlug, ist der Sorge meines Vaters zu verdanken. Als der hörte, was wir vorhatten, rief er seine beiden Brüder an, woraufhin die drei so lange an einem Schreckensszenario aus postsowjetischem Chaos, Russenmafia und arktischer Kälte malten, bis meine Großmutter kapitulierte und mich anrief: „Wir fahren nach Kandersteg, Schweiz.“ Womit die typische Konstellation umrissen wäre: Enkel und Großeltern gegen die vernünftig spröden Eltern.

Lachende Großeltern bei einem Ausflug mit ihrem Enkel im Park
Früher empfingen Großeltern ihre Enkel eher im Lehnstuhl, heute sind die Generationen gemeinsam aktiv
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Johann Wolfgang von Goethe, der oberste Gewährsmann meiner Großmutter, schrieb in seinen Kindheitserinnerungen: „Vor diesen didaktischen und pädagogischen Bedrängnissen flüchteten wir gewöhnlich zu den Großeltern.“ Das trifft es heute natürlich nicht mehr so ganz; die massiven Autoritätskonflikte zwischen Eltern und Kindern sind vorüber. Aber immer noch haben Großeltern und Enkel gemein, dass sie wenigstens phasenweise jenseits der „Bedrängnisse“ von Alltagsgeschäften und Berufsaufgaben leben, die den Alltag der Eltern oftmals so gnadenlos bestimmen.

Wenn mein Vater früher nervös aus der Zeitungsredaktion nach Hause kam, und man beim Abendessen spürte, wie der hektische Arbeitstag noch in ihm nachzitterte, wenn er uns Kinder überempfindlich und gereizt anpflaumte, dann schaute meine damals bei uns lebende Großmutter mich über den Rand ihrer Brille nachsichtig an. Durch diesen Blick kehrten sich die Kräfteverhältnisse zwischen meinem Vater und mir gewissermaßen heimlich um.

Es war, als sagte sie, lass ihn schimpfen, er kann ja nichts dafür. Wir waren in diesen Momenten Verbündete.

Großeltern sind moralische Instanz und enge Bezugspersonen

Heute bin ich selbst Vater und Zeitungsredakteur und in dieser Doppelrolle oft gestresst und gehetzt. Mein Vater aber ist mittlerweile Zeitmillionär und gibt generös von diesem Reichtum an unsere zwei Kinder ab, seine Enkel. Meine Mutter sowieso. Als ich unsere Tochter Sophie fragte, was es eigentlich so Tolles bei Oma und Opa gebe, dass sie sich immer so auf die Besuche freue, sagte sie den ebenso pragmatischen wie philosophischen Satz: „Bei denen gibt’s mehr Süßes, mehr Fernsehen und mehr Zeit.“

Meine Eltern hatten jahrelang die Muße, sich die selbst erfundenen Kasperltheaterstücke unseres Sohnes Nicolas auch viermal hintereinander anzusehen, ohne dabei je aufs Mobiltelefon zu schielen, und sind mit Sophie jede Woche wieder zu den Wildschweinen in den Perlacher Forst gegangen. Damit sind sie ganz typische Großeltern unserer Tage. In heutigen Kinder- und Jugendbüchern tauchen Oma und Opa längst nicht mehr als strenge moralische Instanz auf. Sie sind vielmehr enge Freunde der Kinder, ebenbürtige Individuen aus einer anderen Generation – und stellen durch mitunter unkonventionelles Verhalten gesellschaftliche und elterliche Normen in Frage.

Die Macht des Erbes

Es muss ja nicht so weit gehen wie in dem Bilderbuch „Nasebohren ist schön“: Da machen die demonstrativ antiautoritären Großeltern ihren staunenden Enkeln vor, wie wunderbar es ist, die Finger tief in der Nase kreisen zu lassen. Das hätte meine Großmutter, Jahrgang 1905, nie geduldet. Sie hatte, bei aller Nonchalance, immer auch etwas sehr Resolutes. Aber sie hütete sich, mir irgendwelche lebenstechnischen Vorschriften zu machen. Sie war eine diskrete Freundin, keine Autoritätsperson. Und vielleicht war sie sogar ein wenig antiautoritär: Immerhin haben wir auf unserer Reise nach Kandersteg einmal Pflaumen geklaut.

Wir sind also in die Schweiz gefahren, wo sie mir Orte zeigte, die sie von früheren Reisen kannte. An dem Regentag im Zug waren wir am Matterhorn gewesen, auf dem Heimweg überraschte uns dann eine Überschwemmung auf der Strecke. Und eine Nacht wie im Krieg: überfüllte Bahnhöfe, komplizierte Umsteigeaktionen, stundenlanges Warten.

Meine Großmutter aber genoss die Nacht. Irgendwann stimmte sie in einem Waggon ein Lied des Theologen Paul Gerhardt an und sang alle 14 Strophen.

Enkel vermitteln Großeltern das Gefühl, jung zu bleiben

Großeltern haben Eltern gegenüber einen unschlagbaren Vorteil: Sie müssen nicht täglich mit dem Nachwuchs auskommen. Gonga hatte drei Jungen großgezogen, allein, nach dem Krieg. Es muss sehr hart gewesen sein.

Auf unserer Irrfahrt sagte sie, sie genieße es sehr, achtfache Großmutter zu sein und uns alle aufwachsen zu sehen, es sei „eine Wiederholung, aber eine Wiederholung wie im Kino“.

Wie im Kino: Man schaut fasziniert zu, kann aber gehen, wenn einem etwas nicht passt. Intimität auf Distanz. Die Sozialforscherin Ingrid Herlyn untersuchte vor einigen Jahren in einer Studie die Beziehungen zwischen Großmüttern und Enkelkindern. Neun von zehn der Omas gaben an, durch die Beziehung zu ihren Enkeln Freude, Stolz und Bereicherung zu empfinden.

Die Enkel vermittelten den Frauen das Gefühl, jung zu bleiben, gebraucht zu werden, ein sinnvolles Leben zu leben. Mehr als 70 Prozent fanden das Großmuttersein sogar schöner als ihr einstiges Muttersein, eben weil sie die Begegnungen mit den Enkeln ohne eigene Erziehungsverantwortung genießen konnten.

Großvater und Enkel restaurieren ein Automodell
Wie lassen sich ein Rad oder ein Automodell reparieren? Manche Fertigkeiten können Enkel auch im Digitalzeitalter am besten von den deutlich Älteren lernen
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Nach Zahlen des Deutschen Zentrums für Altersfragen betreut jedes vierte Großelternpaar in Deutschland die Enkel regelmäßig; sporadisch helfen mehr als die Hälfte aller Großeltern aus.

Das Deutsche Jugendinstitut in München kommt zu dem Schluss, dass Oma und Opa nach den Eltern und den Erziehern im Kindergarten die wichtigsten Betreuungspersonen für Kinder unter sechs Jahren sind.

Diese großelterliche Blütezeit unserer Tage hat viele Gründe. Nicht zuletzt einen höchst ökonomischen: Großeltern werden schon deshalb anders eingebunden, weil heute viel mehr Frauen arbeiten als noch in den 1960er Jahren. Mit anderen Worten: Die Großeltern tragen dazu bei, dass Mütter sich beruflich emanzipieren können.

Stetig zunehmende Lebenserwartung ermöglicht langjährige, enge Beziehungen

Meine Frau und ich wurden als junge berufstätige Eltern von vielen Freunden darum beneidet, dass wir vier Großeltern in der Nähe hatten. Auffällig viele dieser Freunde haben selbst nur ein Kind – weil sie festgestellt hatten, dass sie Job und Familie kaum vereinbaren konnten. Bei uns dagegen hatte die Betreuung unseres erstens Kindes so gut geklappt, dass wir uns schnell einig waren, noch ein zweites zu bekommen.

Insofern bestätigen wir im Kleinen die „Großmütter-Hypothese“ der Evolutionsbiologen: Demnach hat sich zu Urzeiten die Lebenserwartung der Homo-sapiens-Frauen nur deshalb über das gebärfähige Alter hinaus entwickelt, weil sie dadurch ihren Töchtern als Betreuungsperson für die Enkel zur Verfügung standen; das erhöhte die Überlebenswahrscheinlichkeit der Babys und die Chance auf weitere Nachkommen. Auf die leiblichen Väter war offenbar schon damals wenig Verlass.

Es dauerte jedoch viele Jahrzehntausende, bis Großmütter – und schließlich auch Großväter – die heute typische Rolle im Dasein der Enkel übernehmen konnten. Noch im 16. Jahrhundert, als der Begriff “ Großeltern “ zum ersten Mal auftauchte, verband man damit vor allem die Vorstellung von „alten Eltern“. Die führten in der Regel einen eigenen Haushalt und arbeiteten, meist bis zum Tod.

Erst seit dem 18. Jahrhundert gilt die Großelternschaft als eigenständiger Lebensabschnitt mit besonderen Aufgaben. In einigen Berufen gab es erstmals so etwas wie einen Ruhestand, außerdem heirateten die Menschen früher und bekamen früher Kinder. Die ältere Generation hatte damit mehr Zeit als zuvor, sich um andere zu kümmern.

Mehrgenerationen-Haushalt
Viele Mehrgenerationen-Familien leben auch heute noch an einem Ort
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Hinzu kam, dass man die Familie im aufkommenden Bürgertum erstmals als eine „emotional intensiv verbundene Gruppe“ verstand, wie es der Wiener Familienhistoriker Erhard Chvojka formuliert. Chvojka hat über die Großeltern -Enkel-Beziehungen in der Neuzeit geforscht und sagt, der von Leistungserwartungen unbelastete Genuss gegenseitiger Gegenwart sei im 19. Jahrhundert zum Privileg der Beziehung zwischen Enkelkindern und Großeltern geworden.

Die stetig zunehmende Lebenserwartung ermöglicht inzwischen langjährige, enge Beziehungen: Während vor 1950 noch die meisten Zehnjährigen ohne Oma und Opa aufwuchsen – einfach weil die schon gestorben waren -, erleben heute mehr als 80 Prozent der Zehn- bis 14-Jährigen noch ihre Großeltern .

Das sind längst nicht mehr müde Pensionäre, sondern viele von ihnen sind bis ins hohe Alter kerngesund – ja sie kümmern sich heute häufiger und länger um die Jungen als umgekehrt. Der Saldo wird zwar mit den Jahren geringer, aber selbst über 70-Jährige sind noch „Netto-Geber“.

Ihre Liebe und Zuwendung konzentriert sich darüber hinaus auf immer weniger Enkel: Eine zur Zeit des Ersten Weltkriegs geborene Frau hatte später durchschnittlich mehr als drei Enkel – eine Generation danach waren es dagegen nur noch etwas mehr als zwei.

Großeltern-Enkel-Beziehungen heute so intenstiv wie nie

Und so lässt sich sagen: Wohl nie zuvor in der Geschichte gab es so innige und intensive Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln wie heute. Dass die Generationen in früheren Jahrhunderten ständig engen Kontakt hatten, ist dagegen allenfalls ein Mythos – und viele der Altvorderen erlebten ihre Enkel gar nicht mehr.

Zwar leben nach Daten des Statistischen Bundesamts heute weniger als ein Prozent aller Drei-Generationen-Familien unter einem gemeinsamen Dach. Doch die übrigen sind meist nicht weit voneinander entfernt: Etwa ein Drittel leben im gleichen Ort, oft in unmittelbarer Nachbarschaft. Und nur bei einem Fünftel der Großeltern beträgt die Distanz zum nächsten Enkelkind mehr als eine Stunde Fahrzeit.

Der vielleicht wichtigste Grund für die Nähe zwischen Enkeln und Großeltern ist aber ein ganz anderer. Die Schulbücher meiner Kindheit zeigten Großeltern als Figuren aus einer anderen Zeit: Omas trugen grauen Dutt, Brille und sackartige Kleider, saßen strickend im Schaukelstuhl oder taperten am Stock umher. Opas waren gemütliche Käuze mit Bart, Pfeife und Schiebermütze. Beide waren Repräsentanten einer fernen, fremden Zeit.

Mensch,Mama!

In pädagogischen Ratgebern hieß es bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, man solle die Kinder eher nicht von solchen Personen erziehen lassen; sie galten entweder als zu nachsichtig und verwöhnend oder umgekehrt zu altmodisch und streng.

Heute liegen die Erziehungsvorstellungen der Generationen eng beieinander: Laut einer Untersuchung des Allensbach-Instituts denken nur fünf Prozent der Großeltern über Erziehung grundsätzlich anders als die Eltern. Die meisten pflegen ebenfalls einen modernen Verhandlungsstil, setzen auf Einsicht statt auf Strafe. Deshalb haben viele Enkelkinder heute weitaus tolerantere und eigenständigere Omas und Opas als die Generationen zuvor.

Manche Forscher sehen indes schon die Gefahr einer Idealisierung der Großelternschaft; nach Ansicht dieser Wissenschaftler sind die „neuen Alten“ vor allem ein Mittel- und Oberschichtenphänomen. Es gebe aber nach wie vor auch die „alten“ Omas und Opas, über die Jugendliche klagen, dass sie sie ständig als Kinder behandeln und stets nach den gleichen Dingen fragen. Und innerhalb des familiären Autoritätsgefüges sei der „Großvater als Lehrmeister“ heute oft vom „Großvater als Märchenerzähler“ abgelöst worden.

Großeltern können in Krisen zum emotionalen Anker werden

Dennoch findet heute nur jeder fünfte Teenager seine Großeltern altmodisch. Manche Altvorderen schulen sich sogar in Sachen Großelterntum professionell weiter: Das Kolping-Bildungswerk Württemberg veranstaltet eine „Großelternschule“, um die Kommunikation zwischen den Generationen zu verbessern, und das Asklepios Klinikum Uckermark hat bereits mehrfach „Kurse für werdende Großeltern “ abgehalten.

Das kann in jenen Fällen nutzen, in denen sich die Eltern ständig streiten oder gar trennen – und Oma und Opa zum emotionalen Anker werden. Ein Vertrauensverhältnis zu den Großeltern , so zeigt eine Studie der britischen Familienforscherin Ann Buchanan von der Universität Oxford, lässt die Enkel eine solche Krise meist besser durchstehen.

Gonga, meine Oma, hätte über jegliche akademisierte Kompetenzvermittlungsbemühungen nur gelacht und gesagt: „War anders früher.“ Womit, neben all dem Alltagspraktischen, noch etwas ganz anderes, aber ebenso Wertvolles über die Beziehungen zwischen Enkeln und Großeltern angedeutet ist: Da sich für einen jugendlichen Menschen die meisten Ereignisse vor der eigenen Geburt in vorhistorischem Nebel sowie Schwarz-Weiß-Aufnahmen verlieren, können die Großeltern aus eigener Erinnerung wunderbar anschauliche Geschichtslektionen liefern.

Großeltern vermitteln ein anderes Bild auf die eigenen Eltern

Heute, da ich selbst 45 bin und zwei Kinder habe, staune ich häufig darüber, wie kurz das alles erst her ist, die Weimarer Republik, der Zweite Weltkrieg – ja, ich habe sogar das Gefühl, dass die Geschichte näherrückt, oder besser, ich merke immer mehr, wie längst vergangen geglaubte Zeit in unsere Gegenwart hereinragt.

Als ich meinen Kindern kürzlich vom Fall der Berliner Mauer erzählen wollte, winkte mein Sohn Nicolas ab: „Jaja, ich weiß schon, damals im Krieg.“ Wenn aber mein Vater tatsächlich aus seiner Kindheit in den Kriegsjahren erzählt, hört Nicolas gebannt zu.

Ganz ähnlich war es bei mir. Geschichtsvorträge meines Vaters waren schon kurz darauf vergessen – aber die Erzählungen meiner Großmutter aus ihrer Kindheit vor dem Ersten Weltkrieg, aus der Zeit als alleinerziehende Mutter in den Nachkriegsjahren, als ihr Mann nicht mehr aus Russland zurückkam, die erinnere ich bis heute.

So werden Großeltern zu einer Brücke in die Vergangenheit. Sie vermitteln einem auch einen anderen Blick auf die eigenen Eltern. Denn die sind in den Erzählungen der Großeltern ja nicht die übermächtigen Erwachsenen, als die man sie als Kind oft wahrnimmt, sondern selbst Kinder, die Quatsch machen und Schwächen haben. Wenn ich mich früher vor dem Klavierüben drücken wollte, geriet mein Vater oft in Argumentationsnot – schließlich wusste ich von Gonga, dass er seine Klavierstunden oft an seinen jüngeren Bruder abgetreten hatte, wenn es ihm selbst an Lust fehlte.

Meine traurigste wie auch eine meiner schönsten Erinnerungen an Gonga hängen mit jener Nacht im Schweizer Unwetter zusammen. Irgendwann, wir waren das dritte Mal umgestiegen und fuhren rätselhafterweise am Lago Maggiore entlang, sagte sie plötzlich: „Du weißt nicht, wie das ist, wenn der andere nicht mehr ist. Du liegst im Bett, und er ist einfach nicht mehr da.“

Dann schwieg sie lange und sagte: „Der Schmerz ist zum Verrücktwerden. Das Unabänderliche. Und er ist einfach nicht mehr da.“ Da hab ich zum ersten Mal begriffen, was der Tod ist.

Kurz darauf fand ich in einem Abteil, in dem fünf junge Asiatinnen saßen, einen Sitzplatz für sie. Ich selbst kauerte mich am Ende des Waggons auf den Gang und versuchte, ein wenig zu schlafen. Als ich nach einer halben Stunde nachschauen wollte, wie es ihr ging, hörte ich schon von Weitem ihren kräftigen Sopran. Sie sang den fünf erstaunten Mädchen „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ vor.

„Ach“, sagte sie, als sie mich sah, „das ist mein Enkel. Und das hier sind Wi, Li, Wan, Hao und – wie war noch Ihr Name?“

Meine Großmutter ist 2001 gestorben. Sie war 97 Jahre alt. Ich bin sehr froh, dass wir auf unserer Reise in das Unwetter geraten sind. Wir kamen damals nach 19 Stunden Fahrt in Kandersteg an und trampten mit einem Bauern in unsere Pension. Meine Großmutter fragte, ob wir nicht noch ins Rhonetal wollten, am Nachmittag sei dort das Licht besonders schön. Ich aber war hundemüde und musste erst einmal schlafen.

Dieser Text stammt aus dem im Jahr 2014 erschienenen Magazin „GEO WISSEN Nr. 54 – Wie Erziehung gelingt“.

Nachrichtenquelle: geo.de

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