Artenvielfalt: Warum die Frage "Wozu sind Zecken eigentlich gut?" falsch gestellt ist

Wir Menschen neigen dazu, Tiere nach ihrer Nützlichkeit für uns zu beurteilen. Oder nach ihrer Schädlichkeit. Die Konsequenzen sind fatal

„Wozu sind Zecken eigentlich gut?“, fragte mich neulich jemand nach einem Waldspaziergang. Ich schnippte mir gerade einen der Krabbler vom Hosenbein. Tja, wozu sind die gut? Leichter ist die Frage zu beantworten, warum wir sie scheiße finden: Nicht der Wolf oder die Hunderte Kilo schwere Kegelrobbe gelten als die „gefährlichsten Tiere Deutschlands“. Sondern die stecknadelkopfgroßen, lahmen Achtbeiner. Wir nehmen sie unbemerkt vom Grashalm mit, sie halten ihre Blutmahlzeit an den unmöglichsten Körperstellen. Sie können Krankheiten übertragen. Sie versauen uns den wohl verdienten Aufenthalt in der Natur.

Die Abneigung gegen die Spinnentiere scheint so wenig erklärungsbedürftig, dass es selbst Wissenschaftler*innen schwerfällt, sie zu verbergen. In der Rubrik „Tolle Idee!“ berichtete der Deutschlandfunk über Pläne, Zecken mit tödlichen Pilzen einfach auszurotten. Der Aufschrei der Zecken-Lobby blieb aus; nicht mal Tierschützer*innen oder Tierrechtler*innen meldeten Bedenken an. Selbst Ratten, ohne die es im Mittelalter keine Pest mit 25 Millionen Todesopfern gegeben hätte, haben ihre Fans und Versteher. Zecken nicht.

Ich finde das ungerecht. Nicht, dass ich missverstanden werde: Ich halte die Krabbler weder für schön, noch finde ich sie sympathisch; ich will Borreliose und Frühsommer-Meningoenzephalitis nicht verharmlosen. Man muss aufpassen, keine Frage. Aber man sollte die Kirche im Dorf lassen. Im Jahr 2020 starb in Deutschland genau ein Mensch an einer FSME-Infektion. Im Straßenverkehr kamen im selben Jahr 2724 Menschen ums Leben. Trotzdem fordert niemand die Abschaffung des Autos.

Das Problem mit dem Nützlichkeitsdenken

Die Spezies Mensch wäre nie so erfolgreich gewesen, wenn Homo sapiens sich nicht schon immer gefragt hätte, was ihm nützt – und was ihm schadet. Und beides penibelst zu unterscheiden. So haben wir die „Nutztiere“ erfunden (deren industrielle Ausbeutung übrigens nur wenigen Menschen nützt, aber im großen Stil dem Klima und der Artenvielfalt schadet, also allen). In eine zweite Schublade sortieren wir die „Schädlinge“, das „Ungeziefer“. Die einen sperren wir ein, wir züchten und nutzen, töten und essen sie. Die anderen zerstören Ernten, machen uns krank – und können eigentlich auch weg. Denken wir zumindest.

Und alle anderen? Hand aufs Herz: Wie viele der vielleicht 10.000 in Deutschland lebenden Arten von Zweiflüglern (die genaue Zahl kennt niemand) können Sie benennen – außer Schwebfliege, Stechmücke und Stubenfliege?Grüner Bereich

Die Kehrseite des menschlichen Erfolgs ist unsere Ignoranz: Eine Million Tier- und Pflanzenarten könnten in den kommenden Jahrzehnten aussterben. Die allermeisten davon kennt kaum jemand – oder tatsächlich niemand, weil sie nie entdeckt wurden. Käfer, die als Larve fast ihr ganzes Leben im Totholz oder im Erdreich verbringen. Mücken, die im Winter über dem Schnee tanzen. Muscheln, die im Schlamm von Bächen leben. Arten, die, wenn überhaupt, nur einen lateinischen Namen haben.

Sie schaden uns nicht, aber sie haben auch keinen Nutzen, der jedem sofort einleuchtet. Sie brillieren nicht wie die so genannten Edelfalter. Sie sind keine summenden Sympathieträger wie die Honigbienen. Die meisten Menschen würden nicht einmal auf die Idee kommen, zu fragen, wozu die eigentlich da sind. Weil sie in unserer Wahrnehmung gar nicht da sind. Ihr Verschwinden ist uns egal. Und doch sind sie Teil eines unüberschaubaren lebendigen Netzes. Sie hinterlassen eine Lücke.Verschwinden die Insekten bald für immer?

Forschende haben gerade, zum x-ten Mal, dazu aufgerufen, die Artenvielfalt besser zu schützen. Das Überleben der Menschheit hänge davon ab. Ich bin nicht sicher, ob solche Appelle irgendetwas nützen. Weil sie in genau jenem Nützlichkeitsdenken befangen sind, das uns in die jetzige Krise geführt hat. Da heißt es dann, Bienen würden schließlich unsere (Nutz)pflanzen bestäuben, wir bräuchten sie noch. Die sogenannte Bestäubungsleistung wurde sogar schon in Dollar umgerechnet.

Vielleicht wäre stattdessen ein Anfang: nicht zu fragen, wozu die Zecke „eigentlich gut“ ist. Für möglich halten, was Albert Schweitzer über sich selbst dachte: dass er Leben sei, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Nicht mehr und nicht weniger.

Nachrichtenquelle: geo.de

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