Mandela-Effekt: Weshalb wir uns an Dinge erinnern, die in Wirklichkeit gar nicht passiert sind

Manchmal spielt uns das Gedächtnis einen Streich. Der „Mandela-Effekt“ beschreibt ein solches Phänomen – dass wir uns an Dinge erinnern, die sich so gar nicht abgespielt haben

„Ich sehe was, was Du nicht siehst“ – das altbekannte Kinderspiel hätte Pate stehen können für den Mandela-Effekt. Der Unterschied: Beim Mandela-Effekt erinnern sich Menschen an Ereignisse, die nie stattgefunden haben, anstatt sie zu sehen. Das Phänomen betrifft sogar ganze Gruppen. Je mehr Menschen von der falschen Erinnerung überzeugt sind, desto realer wird sie.

Der Mandela-Effekt verfälscht die Erinnerung

Entdeckt hat den Mandela-Effekt die britische Autorin Fiona Broome. Im Jahr 2010 nahm sie an einer Tagung teil und antwortete auf Nachfrage eines Teilnehmers, dass Nelson Mandela längst tot sei. In ihrer Erinnerung war der spätere südafrikanische Präsident noch in der vorherigen Haft in seiner Zelle gestorben. Sogar an Szenen seiner Beerdigung aus dem Fernsehen konnte sie sich erinnern.

Die erste Überraschung: Nelson Mandela war zu dem Zeitpunkt noch quicklebendig. Er starb erst erst im Jahr 2013 im Kreis seiner Familie. Überraschung Nummer zwei: Außer Fiona Broome konnten sich noch mehrere Tagungsteilnehmer an den Tod von Nelson Mandela in der Haft erinnern und je länger sie darüber sprachen, desto deutlicher, intensiver und facettenreicher wurde ihre Erinnerung. Sogar die vorliegenden Fakten zum tatsächlichen noch lebenden Nelson Mandela wurden teilweise in Frage gestellt.

Künstliche IntelligenzMacht ohne Moral

Broome postete daraufhin ihre erstaunliche Erfahrung in ihrem Blog und nannte das falsche Erinnerungserlebnis „Mandela-Effekt“. Schon nach kurzer Zeit meldeten sich zahlreiche Leute bei ihr, die von ähnlichen Erfahrungen mit ihrem Gedächtnis berichteten. Berühmt und bekannt wurden seitdem verschiedene Erinnerungssausetzer, für die trotz ihrer nachgewiesenen Falschheit Millionen Menschen einen Eid ablegen würden.

Das Gedächtnis spielt vielen Menschen einen Streich

Auch falsche Zitate prägen sich gern in das Gedächtnis vieler Menschen ein. „Luke, ich bin Dein Vater“ gehört dazu. Der legendäre Satz aus dem Star Wars-Film hat sich stark in die Erinnerung von Millionen Filmfans eingebrannt. Tatsächlich sagt der Darth Vader aber lediglich: „Ich bin Dein Vater.“ Der Name „Luke“ taucht nirgendwo auf. Viele Star Wars-Fans hingegen würden auf Nachfrage ihr letztes Laserschwert verwetten, dass das falsch ist.

Gleiches gilt für die Frage: Trägt der Monopoly-Mann ein Monokel oder nicht? Viele Menschen haben genau dieses Bild im Kopf und in der Erinnerung. Tatsächlich spielt ihnen das Gehirn einen Streich: Der Aristokrat mit Zylinder, Schnurrbart und Frack trägt kein Monokel. Aber je mehr Menschen sich an dieses Bild erinnern, desto realer wird es in der gegenseitigen Bestätigung und auf Nachfrage auch vehement verteidigt. Sich von vorhandenen Erinnerungen als falsch zu verabschieden, fällt den meisten Menschen schwer.

Bei Gerichtsprozessen hat der Mandela-Effekt große Bedeutung

Deshalb wird das Phänomen auch schon seit Längerem von der Psychologie untersucht. Der Fachbegriff ist „Erinnerungsverfälschung“ und zu unterscheiden von der „falschen Erinnerung“. Während hierbei durch fantasierende Einbildung neue Gedächtnisinhalte geschaffen werden, bezeichnet die Erinnerungsverfälschung das unabsichtliche Verfälschen vorhandener eigener Erinnerungen. Geprägt hat beide Begriffe in ihren Unterschiedlichkeiten bereits 1886 der  Psychiater Emil Kraeplin in ersten Untersuchungen dazu.

Immense Bedeutung kommt dem Mandela-Effekt bei Gerichtsprozessen zu. Die Frage der Glaubwürdigkeit von Augenzeugen spielt eine große Rolle. Wissenschaftlich erwiesen erinnern sich Menschen bei Negativ-Ereignissen an andere Dinge, als bei positiven Ereignissen. Gesprochen wird in dem Zusammenhang auch vom „Tunnel-Blick“.

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War jemand beispielsweise Zeuge eines bewaffneten Banküberfalls, dann konzentriert sich seine Aufmerksamkeit auf die Bedrohung – in dem Fall die Waffe. Verlässliche Aussagen zum Aussehen der Räuber, zur Größe, der Kleidung und anderem werden schwierig, aber oft trotzdem von Zeugen gemacht – auf Basis einer Erinnerung, die von ihnen selbst zu einhundert Prozent glaubwürdig eingestuft wird.

Erlebt jemand allerdings etwas Positives, dann weitet sich seine Aufmerksamkeit. Das Gehirn will so viele schöne Eindrücke wie nur möglich mitbekommen und abspeichern. Das wahrgenommene Umfeld wird möglichst groß angelegt. Hier der Nachteil: Die Erinnerung verschwimmt, weil es eine geringere Fokussierung gibt als im Negativfall – zugunsten einer positiven Informationsflut.

Das Gehirn lässt sich manipulieren

Wie verlässlich ist also die Erinnerung? Die Psychologie kommt zu dem Schluss, dass unser Gehirn manipulierbar ist. Verschiedene Versuche haben gezeigt, dass durch Suggestivfragen und Suggestion bestimmte Inhalte bewusst in der Erinnerung von Menschen verankert werden können. So hat ein Versuch mit 100 Probandinnen und Probanden dazu geführt, dass die Teilnehmenden am Ende überzeugt waren, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein. Eine Erinnerungsverfälschung, die in der Realität in Schweden zu einer 12-jährigen Haftstrafe geführt hat.

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Tatsächlich hat hier eine junge Frau nach erfolgter Psychotherapie ihren Vater angezeigt, er habe sie 200 Mal vergewaltigt. Trotz fehlender Beweise wie Zeugenaussagen oder medizinischen Indizien wurde der Mann 2002 auf Basis der Erinnerung seiner Tochter zu 14 Jahren Haft verurteilt.

Als die Frau 2007 weitere nicht beweisbare Anschuldigungen erhob und sich als Teil eines landesweiten, pädophilen Netzwerkes sah, an dem führende Köpfe aus Wirtschaft, Politik und Polizei beteiligt seien, wurde der Fall Västeras wieder aufgerollt. 2014 wurde der Vater freigesprochen und aus der Haft entlassen. Er bekam 12,6 Millionen Kronen Entschädigung für die falsche Verurteilung.

Beispiele für das Phänomen gibt es in der Wissenschaft viele

Wie groß die Macht und die Möglichkeiten der Erinnerungsverfälschung sind, zeigen folgende Beispiele aus wissenschaftlichen Experimenten und Studien:

  • Walt Disney Park-Besuchern wurde in späteren Gesprächen durch die US-amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus suggeriert, sie hätten auf dem Gelände den Hasen Bugs Bunny getroffen. Alle konnten sich anschließend lebhaft daran erinnern – was aber schlichtweg unmöglich ist, da Bugs Bunny eine Trickfilmfigur der Warner Brothers ist.
  • Die Psychologin Julia Shaw und ihr Kollege, der Psychologe Stephen Porter brachten mehrere Studierende unabhängig voneinander dazu, an eine begangene Straftat in deren Kindheit zu glauben. 70 Prozent der Probanden konnte sich anschließend an die vermeintliche Tat und das Umfeld bis hin zum Polizeieinsatz erinnern.
  • Das „Lost in the Mall“ ist ein klassisches Psychologie-Experiment, bei dem Probanden suggeriert wird, sie seien als Kind in einer großen Einkaufspassage verloren gegangen und von einem fremden Mann Zuhause abgegeben worden. Immerhin 20 Prozent der Gruppe in einem entsprechenden Versuch erinnerte sich nach dem Experiment deutlich daran.

Mandela-Effekt durch Verfälschung im Gehirn

Wie aber kommt es nun in unserem Alltag zu den Erinnerungstäuschungen? Wissenschaftlich erforscht wird das Phänomen seit den 1960er-Jahren. Eine verlässliche und fundierte Erklärung gibt es bisher nicht. Das auch als Konfabulation bezeichnete Auftreten von falschen Aussagen und Erinnerungen bei größeren Menschengruppen wird zumindest nachweislich durch bestimmte Gehirnaktivitäten ausgelöst.

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Sie sind sowohl für das Stabilisieren von Gedächtnisinhalten als offenbar auch für die Verfälschung zuständig. Psychologinnen und Psychologen sprechen deshalb von „der negativen Kehrseite der Hirnfähigkeit, bestehende Gedächtnisinhalte zu aktualisieren“. Fiona Broome selber hat inzwischen die Theorie aufgestellt, dass sich in den unterschiedlichen Erinnerungen verschiedene Paralleluniversen überschneiden.

Was auch immer hinter dem Mandela-Effekt steckt – fest steht auf jeden Fall:

  • dass die Flagge der USA nur 50 Sterne hat und nicht 52
  • der Pokémon Pikachu nur schwarze Spitzen an den Ohren hat und nicht auch am Schwanz
  • die große Ballade „We are the Champions“ von Queen mit genau diesen Worten aufhört und nicht mit „of the world“.

Diese Fortsetzung des Textes haben Fans in Live-Konzerten an den Schluss des Liedes angehängt und nicht Freddy Mercury beim Texten – aber alle 50.000 Zuhörer aus dem Stadion können sich deutlich dran erinnern, das der Song auf dem Album genau so endet.

Nachrichtenquelle: geo.de

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