Herpesviren: Epstein-Barr-Virus wohl wichtigste Ursache von Multipler Sklerose

Bisher war es nur ein Verdacht – doch nun zeigt eine Studie, dass das Epstein-Barr-Virus die Hauptursache von Multipler Sklerose ist. Möglicherweise könnte eine frühe Impfung schützen. Doch dabei wäre Vorsicht geboten.

Der Verdacht bestand schon lange: Doch nun belegt eine große US-Studie klar, dass das extrem weit verbreitete Epstein-Barr-Virus die Hauptursache der Multiplen Sklerose ist. Eine Infektion mit dem Erreger erhöhe das Risiko für die Autoimmun-Erkrankung um etwa den Faktor 32, berichten die Forscher im Fachblatt „Science“. Damit sei das Virus die mit Abstand wichtigste Ursache der Krankheit – und wohl auch eine notwendige Vorbedingung.

„Diese Arbeit ist der letzte Puzzlestein“, sagt der Leiter der Multiple Sklerose-Ambulanz am Campus Mitte der Berliner Charité, Klemens Ruprecht. „Die Ergebnisse lassen praktisch keinen Zweifel mehr an einem kausalen Zusammenhang zu.“ Klar ist allerdings auch: Die weitaus meisten Infizierten entwickeln keine Multiple Sklerose.

Denn etwa 95 Prozent aller Menschen infizieren sich im Laufe ihres Lebens mit dem zu den Herpesviren zählenden Epstein-Barr-Virus (EBV) – meist schon in der Kindheit. Die gewöhnlich über Speichel übertragene Infektion verläuft meist symptomlos, kann aber bei Jugendlichen und Erwachsenen das Pfeiffersche Drüsenfieber verursachen – wegen des Übertragungswegs zuweilen auch Kusskrankheit oder Studentenfieber genannt. Die Erkrankung geht mit Fieber, Müdigkeit, Halsschmerzen und geschwollenen Lymphknoten einher, heilt aber in den meisten Fällen aus.

Multiple Sklerose kann die Lebensqualität der Betroffenen stark einschränken

Seit Jahrzehnten vermuten Forscher einen Zusammenhang zwischen einer EBV-Infektion und einer späteren Multiplen Sklerose (MS). Bei der nicht heilbaren Autoimmun-Erkrankung, die in Deutschland nach Angaben der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) etwa 250 000 Menschen betrifft, zerstört das Immunsystem im Zentralen Nervensystem die schützenden Myelinhüllen, die die Nervenfasern umgeben. Das führt unter anderem zu Empfindungsstörungen, Sehbeeinträchtigungen und Bewegungsproblemen bis hin zu Lähmungen, was die Lebensqualität der Betroffenen stark einschränken kann.

Nun prüfte das Team um den Epidemiologen Alberto Ascherio von der Harvard University die Rolle von EBV anhand der Daten von mehr als 10 Millionen jungen Mitarbeitern der US-Streitkräfte, die zwischen 1993 und 2013 regelmäßig auf HIV untersucht worden waren. Bei 955 Teilnehmern wurde während ihrer Beschäftigung beim Militär eine MS festgestellt. In den aufbewahrten Blutproben dieser Patienten suchten die Forscher nach Antikörpern gegen EBV und andere Viren, um so zu ermitteln, mit welchen Erregern die Patienten vor Ausbruch der Erkrankung Kontakt hatten.

Viren: Die leblosenWesen

Zunächst untersuchten die Forscher bei 801 der MS-Patienten die letzte vor Krankheitsbeginn abgenommene Blutprobe. Alle bis auf einen Patienten hatten Antikörper gegen EBV, hatten also eine frühere EBV-Infektion durchgemacht. Die Zeit zwischen Infektion und Diagnose variierte stark und lag im Mittel bei schätzungsweise 7,5 Jahren.

Bei dem einzigen Patienten, dessen Blutproben keine EBV-Antikörper enthielten, schließen die Forscher eine Infektion mit dem Erreger dennoch nicht aus. Möglicherweise habe der Teilnehmer sich erst nach Entnahme der letzten Blutprobe infiziert oder aber keine entsprechenden Antikörper gebildet. Es könne sich auch um eine MS-Fehldiagnose handeln, schreiben sie.

„Die Studie ist ein Meilenstein“

Die Autoren gehen davon aus, dass eine Infektion mit dem Virus das Risiko für Multiple Sklerose um den Faktor 32 erhöht. Das deute stark darauf hin, dass der Erreger eine Ursache der Erkrankung sei – und nicht bloß ein Begleitphänomen.

Das gilt umso mehr, als die Forscher die Blutproben auch auf Antikörper gegen andere Viren untersuchten – etwa auf das ebenfalls zu den Herpesviren zählende Cytomegalievirus, das ähnlich wie EBV durch Speichel übertragen wird. Hier fand das Team keinen Zusammenhang.

Anderweitig bekannte MS-Einflussfaktoren könnten die Erhöhung des Risikos um den Faktor 32 nicht erklären, schreiben die Forscher. Der nächstgrößere Risikofaktor, die Genvariante HLA-DR15, steigere die Erkrankungswahrscheinlichkeit um das Dreifache. Und dass es bislang noch unbekannte Risikofaktoren in der Größenordnung von EBV gibt, halten die Autoren ebenfalls für unwahrscheinlich.

„Die Studie ist ein Meilenstein“, sagt Ralf Gold, Direktor der Neurologischen Klinik am St. Josef Hospital der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und Vorsitzender des Ärztlichen Beirats der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG). „An den Resultaten kommt man nicht vorbei.“ Die Ergebnisse passen demnach unter anderem zu Daten zur Verbreitung der Multiplen Sklerose auf den Faröer Inseln: Nachdem dort gegen Ende des Zweiten Weltkriegs britische Soldaten stationiert worden waren, stieg die Zahl der Fälle deutlich.

Der genaue Mechanismus ist unklar

Unklar ist allerdings der genaue Mechanismus, wie William Robinson und Lawrence Steinman von der kalifornischen Stanford University in einem „Science“-Kommentar schreiben. „Fast jeder ist mit EBV infiziert, aber nur ein kleiner Bruchteil entwickelt MS“, betonen sie. „Also sind noch andere Faktoren wie etwa eine genetische Anfälligkeit wichtig für die Entstehung der Krankheit.“ Eine EBV-Infektion sei zwar wohl notwendig, aber alleine nicht ausreichend, um die Krankheit zu verursachen.

MS sei als seltene Spätkomplikation einer EBV-Infektion anzusehen, sagt der Charité-Experte Ruprecht. Zu dem Mechanismus sage die aktuelle Studie nichts aus. „Aber wenn wir die Entstehung der MS besser verstehen wollen, ist das die zentrale Fragestellung.“

Derzeit kursiere eine Vielzahl von Vermutungen. Dazu zähle etwa, dass eine fehlgeleitete Immunantwort gegen das Virus dafür sorge, dass sich die Körperabwehr gegen Bestandteile von Nervenbahnen richte. Aber das allein überzeugt Ruprecht angesichts der weiten Verbreitung des Virus nicht: „EBV muss bei Menschen, die später Multiple Sklerose bekommen, eine spezifische Veränderung bewirken, einen molekularen Schalter umlegen“, vermutet der Neurologe.

Vermutlich betreffe diese Veränderung die B-Gedächtniszellen des Immunsystems. Für eine Beteiligung dieser B-Zellen sprechen verschiedene Hinweise: vor allem die Tatsache, dass das Virus diese Zellen infiziert und dort lebenslang verbleibt.

Weiter gestützt wird der Verdacht durch eine noch recht neue Therapie: Antikörper, die sich gegen CD-20 richten, ein Protein auf der Oberfläche dieser B-Zellen. Die Antikörper töten solche B-Zellen im peripheren Blut ab. „Diese Therapie ist sehr wirksam, was eine zentrale Beteiligung der B-Zellen bei der MS belegt“, betont Ruprecht.

Die „Science“-Kommentatoren Robinson und Steinman schreiben, schon mehrere Studien hätten im Gehirn von MS-Patienten EBV-infizierte B-Zellen nachgewiesen. Auch sie verweisen auf die Wirksamkeit der CD20-Antikörper: „Der deutlich bessernde Effekt des B-Zell-Abbaus bei MS beweist eindeutig eine zentrale Rolle der B-Zellen bei der Pathophysiologie der Erkrankung.“

Gleichzeitig verweisen sie auf zwei Schwächen der Therapie: Zum einen könnten die Antikörper nicht in ausreichender Menge durch die Blut-Hirn-Schranke gelangen. Zudem erreichten sie nicht die Vorläufer der B-Zellen, die kein CD20 haben.

Ein Impfstoff ist bislang nicht in Sicht

Daher betont das Harvard-Team um Ascherio, man müsse zum Schutz vor Multipler Sklerose direkt auf das Epstein-Barr-Virus abzielen, etwa durch Impfungen. „Das extrem niedrige MS-Risiko bei EBV-negativen Individuen deutet darauf hin, dass die weitaus meisten MS-Fälle durch EBV verursacht werden und so durch eine geeignete Impfung möglicherweise verhindert werden könnten“, schreiben sie. Zudem könnte eine Impfung auch vor mit EBV-verbundenen Krebserkrankungen schützen wie Hodgkin-Lymphom und Burkitt-Lymphom.

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Ein Impfstoff ist allerdings bislang nicht in Sicht. Und Ruprecht mahnt grundsätzlich zu Vorsicht: „Eine EBV-Impfung wäre zwar die ultimative Lösung, um Multiple Sklerose zu verhindern – aber nur dann, wenn sie zuverlässig und zudem dauerhaft vor einer Infektion schützt.“ Selbst in diesem Fall würde es Jahrzehnte dauern, bis abschließend klar wäre, ob ein solcher Impfstoff tatsächlich einen Schutz vor MS bewirke.

Sollte ein Vakzin eine EBV-Infektion aber nicht verhindern, sondern nur aufschieben, könnte die Impfung sich sogar als kontraproduktiv erweisen, erläutert Ruprecht. Denn je später im Leben sich ein Mensch mit dem Epstein-Barr-Virus infiziert, desto höher das Risiko für das Pfeiffersche Drüsenfieber – und auch für Multiple Sklerose. „Wenn eine EBV-Impfung im Kleinkindalter eine Infektion nur für die Dauer von 10 bis 20 Jahren verhindern würde, könnte das paradoxerweise dazu führen, dass die Häufigkeit von Multipler Sklerose sogar zunimmt.“

Nachrichtenquelle: geo.de

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