Walden-Autor: Der Mann der in den Wald zog, um sich selbst zu finden

Mit 27 Jahren zog Henry David Thoreau in eine Waldhütte, weil er wissen wollte, was ein gutes Leben ist. Er stellte fest: Viel braucht es dazu nicht. Sein berühmtestes Werk „Walden“ ist ein Aufruf zum Minimalismus und zur Selbstbeschau

Henry David Thoreau ist einer, der es gerne ruhig hat. Er läuft lieber im Gras und abseits der Straßen über Hügel und Wälder, weil er das Knirschen der Kiesel unter seinen Füßen nicht erträgt. In seinen Taschen transportiert er sein Tagebuch samt Stift, ein Fernglas zur Beobachtung von Vögeln, ein Mikroskop, ein Taschenmesser sowie ein Stück starken Bindfaden. Viel mehr braucht er nicht.

Henry David Thoreau ist vertraut mit den Tieren des Waldes; Schlangen winden sich um seine Beine, Fische schwimmen ihm in die Hände, Mäuse schlafen unter seiner Matratze und Füchse verbirgt er vor den Jägern. „Die Natur scheint ihn aus Dankbarkeit für seine Liebe als ihr bevorzugtes Kind adoptiert zu haben und zeigt ihm Geheimnisse, die nur wenigen anderen offenbart werden“, schreibt US-Autor Nathaniel Hawthorne über Thoreau.

1817 in Concord, im US-Bundesstaat Massachusetts geboren, gilt Henry David Thoreau als einer der großen Nationaldichter Nordamerikas. Sein berühmtestes Werk „Walden“ ist ein Zeugnis dieser tiefen Empfindsamkeit gegenüber der Natur und den höheren Kräften, die in ihr wirken. Es berichtet von Thoreaus Leben in einer Hütte am Walden-See, in die er sich mehr als zwei Jahre lang zurückzog, um der Gesellschaft zu entfliehen und in der Natur zu sich selbst zu finden.

Rückzug als Widerstand

Als Henry David Thoreau im Jahr 1845 auszieht und seine Hütte am Walden-See baut, wenige Kilometer südlich seiner Heimatstadt, ist er fast 28 Jahre alt. In enger Freundschaft mit dem berühmtem US-Philosophen Ralph Waldo Emerson hatte er sich immer weiter den Neuengland-Transzendentalisten zugewandt, die dogmatische Religionen, Materialismus und das rein rationale Denken der Aufklärung ablehnen.

Das Leben, das die Transzendentalisten proklamieren, ist freiheitlich und selbstbestimmt – der naturverbundene Thoreau findet seine eigenen Ansichten in ihnen wieder und entfernt er sich immer weiter von der Gesellschaft, die er als fehlgeleitet empfindet.

„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ging, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte.“

Sein Widerstand gegen die amerikanische Regierung wächst in diesen Jahren am See. Thoreau ereifert sich an der Kritik am Mexiko-Krieg, an der „Umsiedlung“ der Indianer ebenso wie an der Trägheit der Massendemokratie im Zeitalter des damaligen US-Präsidenten Andrew Jackson. Das größte Unrecht der amerikanischen Gesellschaft erkennt er in der Sklaverei, die erst 1865, drei Jahre nach Henry David Thoreaus Tod, auf dem gesamten Gebiet der USA abgeschafft wird.

„Walden“ beschreibt eine selbstauferlegte Unfreiheit

Die Sklaverei, die Henry David Thoreau in „Walden“ kritisiert, meint allerdings nicht die massenhafte Unterdrückung der Afrikaner. Er schreibt: „Es ist hart, unter einem südlichen Sklavenaufsteher, härter, unter einem nördlichen zu stehen, am schlimmsten aber, wenn wir unsere eigenen Sklavenaufseher sind.“

In der Gesellschaft und in seinen Nachbarn in Concord erkennt Henry David Thoreau eine andere Form der Unterdrückung, die innerhalb des Menschen selbst grassiert. Er übt harsche Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung der USA und beschreibt eine Verzweiflung, die er in seinen Mitmenschen beobachtet: „Ich bin ziemlich viel in Concord herumgekommen und überall, in den Läden, den Schreibstuben und auf dem Feld, schienen mir die Einwohner auf tausenderlei merkwürdige Weise ihre Sünden abzubüßen.“

Hütte von Henry David Thoreau am Walden-See
Philosophie in Holz: Nachbau der Hütte am Walden-See bei Concord in Massachusetts, in der Henry David Thoreau zwei Jahre lang lebte
© anemone – Adobe Stock

Henry David Thoreau beobachtet die Arbeiter an den Eisenbahnen und seine entfernten Nachbarn auf den Feldern, sieht ihren Schweiß in der Mittagshitze und die Zeit, die in der Schufterei verrinnt und erkennt darin den Irrtum des Besitzes. Mit ihrer harten Arbeit erwerben sie Güter und Ländereien, die ihnen schwer werden und ihren Geist an der Freiheit hindern.

Ein Mann, der viele Hektar Land besitzt, ist in Thoreaus Augen nicht reich. Vielmehr gibt er sich freiwillig als Sklave seines Besitzes hin, muss ihn verwalten und vermehren, um sich immer mehr Dinge zu kaufen, die sein Leben nur scheinbar bereichern. Und das ist vielleicht das Wesentliche, das Thoreau während seines Aufenthalts am Walden-See lernt: zwischen den vermeintlichen und den tatsächlichen Grundbedürfnissen des menschlichen Lebens zu unterscheiden. Letztere kann er gar auf ein einziges reduzieren: „Das große Bedürfnis unseres Körpers besteht […] im Warmbleiben, im Erhalten unserer Lebenswärme.“

Henry David Thoreau kritisiert die kapitalistische Ordnung

In seinem Rückzug in die Natur hatte Thoreau erkannt, dass materieller Besitz nicht zu einer Steigerung des erfahrbaren Glückes führt, sondern das Anhäufen von Reichtum und Luxus den Menschen nur blind macht für seine spirituellen, zentralmenschlichen Bedürfnisse.

Unter seinen entfernten Nachbarn am See findet Thoreau die Prototypen seiner These, die Reichtum für den Schlüssel ihres Glückes halten und sich dabei immer tiefer in die Endlosigkeit der materiellen Bedürfnisse werfen. „Ein Narrenleben ist es, wird jeder an seinem Ende denken, wenn er zu seinem Ende gelangt, wenn nicht schon früher“, urteilt Thoreau.

Walden-See im Herbst
Herbstliches Naturidyll: Blick auf den Walden-See in Concord, Massachusetts
© jayyuan – Adobe Stock

Unter dem Druck des Marktes nisten sich zahlreiche Bedürfnisse im Leben seiner Mitmenschen ein, die alltägliche Dinge zu Luxusgütern wandeln und das Erfüllen der Grundbedürfnisse erschweren. Thoreaus Nachbarn und ihre Familien möchten täglich Fleisch essen, sie bauen große Häuser, die mehr Statussymbol als Heimstätte sind und Thoreaus Schneiderin muss erst überredet werden, ihm ein nützliches Hemd zu nähen, das nicht dem Diktat der aktuellen Mode folgt und in der nächsten Saison unbrauchbar ist.

Die kapitalistische Ordnung, die Henry David Thoreau kritisiert, kann nur unter diesen Bedingungen funktionieren und ist deshalb ein in sich krankes System, das nur mit dem Opfer seiner Arbeiter wächst.

Sicherheit im Inneren

Die Verzweiflung, die er ihnen unterstellt, ist nicht grundlos – wesentliche Systemveränderungen fallen in die Lebenszeit Thoreaus: Zwischen 1815 und 1850 wandeln sich die USA von einem agrarischen zu einem kommerziellen Wirtschaftssystem.

Weitgehend autarke Familienbetriebe weichen einer auf den Markt ausgerichteten Überschussproduktion und die wirtschaftliche Expansion der Farmer geht mit starken Abhängigkeiten einher. Kredite müssen aufgenommen werden, um auf die Fluktuationen des Marktes zu reagieren, sodass in ländlichen Gegenden wie Concord schon bald viele Farmer hoch verschuldet sind.

Henry David Thoreau selbst muss nach seinem Abschluss an der Harvard-University erfahren, wie beschwerlich das Leben sein kann, wenn das Wirtschaftssystem gegen einen spielt. In der US-amerikanischen Finanzkrise von 1837 – bis heute eine der größten Wirtschaftskrisen des Landes – platzt eine Spekulationsblase und stürzt die Bevölkerung in eine fünf Jahre andauernde wirtschaftliche Depression. Die Arbeitslosenzahlen schießen in die Höhe, die noch gezahlten Löhne werden aufs niedrigste gedrückt und viele Firmen und Banken erklären den Bankrott.

Henry David Thoreau, der in diesen Jahren sein erstes Auskommen aufbringen muss und sich schließlich als Lehrer an Concords Volksschule verdingt, prägen diese Erfahrungen. Er sucht seine eigene Sicherheit im Inneren, sein Lebensglück soll nicht abhängig sein von Aufschwung und Niedergang der Ökonomie. Das Gegenmodell, das er in Walden beschreibt, setzt auf Autarkie und Simplizität, um die Freiheit und Unabhängigkeit des Einzelnen wiederzuerlangen.

Die Natur stößt alles Falsche von sich

„Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit!“, ruft er dem „Walden“-Leser entgegen und markiert damit die Kernbotschaft der Lektüre: „Laß deine Geschäfte zwei oder drei sein, sage ich dir, und nicht hundert oder tausend, statt eine Million zu zählen, zähle ein halbes Dutzend und führe Buch auf deinem Daumennagel.“

Wie wir herausfinden, was wir wirklich wollen (20076)

Die Thoreausche Idealfigur reduziert ihre Bedürfnisse auf das Nötigste und macht sich frei von Ballast. Letzterer ist dabei nicht nur materiell gemeint. Nach seinem Rückzug in die Waldhütte, in der er nur das Nötigste besitzt, beginnt für Thoreau ein langer Prozess der Selbsterkenntnis und Sinnsuche, die er in freundschaftlicher Nähe des Walden-Sees durchläuft. Der Ballast, den er abwirft, ist innerer Art.

„Wir wollen uns niedersetzen und arbeiten und durch den Schlamm […] der Meinungen, der Vorurteile, der Tradition, der Täuschung und des Scheinens, […], durch Kirche und Staat, durch Poesie, Philosophie und Religion hindurch unsere Füße wetzen und reiben, bis wir auf harten Boden und Felsen an einen Ort gelangen, den wir Wirklichkeit nennen und von dem wir sagen können: ‚Das ist, das ist kein Irrtum.‘“

Das Erreichen jener menschlichen Tiefe, in der für Thoreau die Wahrheit liegt, gleicht einer Widergeburt, die im Schoße der mütterlichen Natur vollzogen wird. Thoreau findet in der Natur zurück zu sich, weil alles Menschliche in ihr vorkommt; weil sie alles Natürliche betont und das Unnatürliche aufdeckt. Ein falsches Leben kann nicht im Einklang mit der Natur gelebt werden. Die Natur stößt alles Falsche von sich.

Walden-See als Metapher des menschlichen Wesens

Der Walden-See dient Thoreau dabei als Metapher des menschlichen Wesens; zwischen Himmel und Erde changieren seine Farben an der Oberfläche und verweisen auf die Dualität von Materie und Geist, die in ihrem geschulten Beobachter pulsiert.

Im See misst Thoreau seine eigene Tiefe und erhebt das morgendliche Bad zur religiösen Praxis. Jeder neue Morgen in der Natur ist ihm eine Hand der Vergebung und eine Einladung, wahrhaftig zu leben; der Frühling lässt auch den größten Sünder in den Schoß der Mutter zurückkehren.

„Durch unsere eigene wiedergewonnene Unschuld erkennen wir die Unschuld unserer Nächsten”, schreibt Throreau. Am menschlichen Nullpunkt, in der Tiefe unserer Erkenntnis, wenn alles Falsche weggeschwemmt wurde, sind alle Menschen gleich. Wir erkennen keine Laster in uns und nicht in unseren Nachbarn.

Henry David Thoreaus Ruhm kommt spät

Henry David Thoreau überarbeitet „Walden“ sieben Mal – als er es 1854 veröffentlicht, liegt sein Experiment am Walden-See schon einige Jahre zurück. Zu Lebzeiten werden gerade mal 2000 Exemplare verkauft, Henry David Thoreau gilt als Sonderling, „Walden“ als Pamphlet einer Fortschritt-Skepsis, die in jener Zeit unüblich und unerwünscht ist. Wie so oft in der Literaturgeschichte kommt der Ruhm spät.

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Heute, mehr als hundert Jahre später, kennt fast jeder Amerikaner Thoreaus Namen, seine Schriften galten zahlreichen Gegenkulturen als Leitschrift, darunter die 68er-Bewegung und das Civil Rights Movement – zuletzt hatten sich die Umweltschützer von Extinction Rebellion auf Thoreau berufen.

Was Thoreaus Leser bis heute fasziniert, ist wohl der Gegenentwurf unserer Wohlstandsgesellschaft, der in „Walden“ und anderen Werken skizziert wird. Die Ökonomie wird zu einem bloßen Mittel herabgestuft, sie dient der Erhaltung einer grundlegenden materiellen Basis, die dem Menschen die Möglichkeit gibt, seine wahre Lebensqualität zu suchen und danach zu leben. Die ihm ferner die Möglichkeit gibt, frei zu sein. Thoreaus Wunsch nach Selbsterkenntnis wird zu einem Wunsch der Selbstbefreiung und der Befreiung seiner Mitmenschen – ein Wunsch, den viele Menschen teilen.

Nachrichtenquelle: geo.de

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