Der sechste Sinn: Propriozeption: Wie Tiefensensibilität uns im Gleichgewicht hält

Der Propriozeption verdanken es wir Menschen, dass wir uns überhaupt bewegen können. Leistungssportler trainieren diesen „sechsten Sinn“, um Höchstleistungen zu vollbringen. In der breiten Masse ist die sogenannte „Tiefensensibilität“ jedoch recht unbekannt. Warum jede und jeder sie trainieren sollte

„Ich denke, also bin ich“ – mit diesen bekannten Worten hat der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) das Selbstbewusstsein in einem Satz zusammengefasst. Was dem Vordenker nicht klar war: Das „sich bewusst sein“ wird erst durch ein verborgenes Körperbewusstsein möglich – die Propriozeption.

Propriozeption als Lebensgrundlage

Als „Eigenwahrnehmung“ kann der leichte Zungenbrecher auch übersetzt werden und steht allein schon durch die ungewöhnliche Buchstabenfolge für die komplexen Vorgänge der „Propriozeption“ im Körper. Manch einer wird nun sagen: „Ich glaube, sowas habe ich nicht“ und genau das ist der Punkt.

Die Propriozeption läuft als grundlegende Körperfunktion so hintergründig, diffizil und selbstverständlich ab, dass wir sie nicht wahrnehmen – bis sie mal fehlt. Im Alter von 20 bis 30 Jahren funktioniert unsere Propriozeption am besten, ab Mitte 30 lässt diese Fähigkeit des Körpers jedoch immer weiter nach – wenn wir sie nicht trainieren.

Räumliche Wahrnehmung durch Informationen ans Gehirn

Genau genommen ist die Propriozeption  eine ständige Abfrage zwischen Gehirn, Muskeln, Körper und Gliedmaßen, wo wir eigentlich gerade sind und was wir eigentlich gerade tun. Möglich ist das durch ein hochkomplexes sensorisches System, das sich speziell durch unsere Muskeln und Sehnen zieht und entsprechende Reize an das Gehirn sendet.

Nur so können wir unbewusst ständig überprüfen, in welcher Stellung unsere Gliedmaßen zueinander stehen, wie viel Kraft oder Geschwindigkeit für eine einzelne Bewegung notwendig ist und damit überhaupt die Wahrnehmung haben, wo wir uns gerade in Raum und Zeit befinden.

Rezeptoren senden propriozeptive Signale

Dazu kommt natürlich auch ein Sinn wie der Tastsinn der Haut, das Sehen, Hören, Riechen oder der Gleichgewichtssinn – aber vor allem eben auch der Bewegungssinn: die Propriozeption. Forschende sprechen von der sogenannten Tiefensensibilität, dem sechsten Sinn. Hierbei werden propriozeptive Signale und Informationen über verschiedene Rezeptoren im Körper gesendet.

Dazu gehören:

  • Muskelspindeln
  • Golgi-Sehnenorgane
  • Rezeptoren der Gelenke wie Ruffini- und Vater-Pacini-Körperchen

Muskelspindeln benutzen wir, um uns in der Schwerkraft zu positionieren – und damit überhaupt erst aufrecht stehen zu können, geschweige denn zu laufen. Die Muskelspindeln sind praktisch Sinnesorgane des Muskels und sorgen dafür, dass sich der Muskel durch den richtigen Reflex zur richtigen Zeit verkürzt oder verlängert.

Die Golgi-Sehnenorgane wiederrum befinden sich am Übergang zwischen Muskeln- und Sehnenfasern. Sie messen und regeln die Spannung im Muskel. Bei starker Dehnung wird der Muskel zum Beispiel entspannt, um eine Überlastung der Gewebefasern zu vermeiden – der sogenannte Streckreflex.

Vibration wird durch Rezeptoren gemessen

Um das Zusammenspiel perfekt zu machen, kommen dann noch die Ruffini-Körperchen ins Spiel. Diese Dehnungsrezeptoren sitzen an den Gelenken. Hier messen sie die aktuelle Stellung der Gelenke und ihre Bewegungsgeschwindigkeit. Als eine Art Schutzmechanismus messen zusätzlich die Vater-Pacini-Körperchen an den großen Sehnenplatten noch die auftretende Vibration.

Propriozeption braucht Training

Ohne die Propriozeption wäre an eine bewusste Körperbewegung und Körperwahrnehmung also gar nicht zu denken. Damit dieses komplexe System reibungslos funktioniert, muss es geschult und trainiert werden. Bei Kindern mit Bewegungsmangel und Ausfallerscheinungen in täglichen Bewegungsabläufen liegt oftmals eine gestörte Körperwahrnehmung zugrunde – ausgelöst durch ein mangelhaft ausgebildetes System der Propriozeption.

Ältere Frau bei der Gymnastik zuhause
Mit Gymnasik- und Balanceübungen lässt sich die Propriozeption trainieren
© Konstantin Yuganov – Adobe Stock

Störungen der Propriozeption können zum Beispiel auch dazu führen, dass der Kopf sich schwerer anfühlt als er eigentlich ist oder Betroffene beißen sich beim Essen auf die Zunge. Auch das Auslösen einer Bewegung in eine bestimmte Richtung kann bei einer fehlerhaften Propriozeption manchmal nicht möglich sein oder zu unsicherem Gang oder Stand führen.

Tiefensensibilität für funktionierenden Körper

Die gute Nachricht: Die Tiefensensibilität kann mit dem richtigen Training ausgebildet und geschult werden. Letzten Endes geht es darum, über gezielte Muskelkontraktion auch die genannten Sinneszellen zu trainieren, Informationen über Nervenbahnen, Rückenmark und zentrales Nervensystem weiterzugeben und für die gewünschte Bewegung auszulösen und zu nutzen. Je regelmäßiger das geschieht, desto besser.

Bewegungssinn auf Hochtouren im Leistungssport

Es kommt nicht von ungefähr, dass Spitzensportlerinnen und Spitzensportler in ihren Disziplinen Spitzenleistungen vollbringen. Abgesehen von der nötigen körperlichen Grundausstattung bringen sie ihr propriozeptives System durch gezieltes und wiederholtes Training auf Höchstleistung.

Laufen, Springen, Schwimmen, Radfahren, Speerwerfen, Skifahren – die Bewegungsabläufe sind perfektioniert und die passenden Rezeptoren in Muskeln, Gelenken und Sehnen dafür hochgradig trainiert.

Eine Frau läust barfuß auf Buhnen
Ein Barfuß-Spaziergang ist ein gutes Training für den sechsten Sinn
© S Amelie Walter – Adobe Stock

Aber auch, wer nicht an der Olympiade teilnehmen will, kann das propriozeptive Training mit in seinen Alltag und in den Sport einbauen. Das weithin bekannte Umknicken mit dem Sprunggelenk kann so beispielsweise bestenfalls verhindert werden. Sind die Rezeptoren an Muskeln, Sehnen und Gelenken ausreichend trainiert, wird die Positionsveränderung am Fußgelenk rechtzeitig gemessen, ans Gehirn übermittelt und zack – der Reflex am Muskel  ausgelöst, das Gelenk stabilisiert und eine Verletzung der Bänder am Gelenk verhindert.

Propriozeptives Training ist beispielsweise:

  • Stehen auf einem Bein, geschlossene Augen (Arme und Handflächen über dem Kopf zusammenführen)
  • Einbeinige Kniebeugen
  • Position auf einem angewinkelten Knie/der Kniescheibe, zweites Bein nach hinten gestreckt, abstützen vorn auf den Spitzen der gespreizten zehn Finger
  • Generell das Training auf einem instabilen Untergrund wie gefaltetem Handtuch, gekauftem Wackelkreisel, Trampolin etc., auf dem die Standfestigkeit aktive ausgeglichen werden muss

Forschung und Geschichte zeigen: Training lohnt sich

Dass propriozeptives Training gezielt etwas für das Körperbewusstsein bringt, zeigt allein schon das Olympiatraining sowjetrussischer Gewichtheber in den 1980er Jahren.

Die Athleten wurden in einen komplett dunklen und schalldichten Raum gestellt, damit sich ihre Sinne einzig und allein auf den Prozess des Gewichthebens konzentrieren konnten – alle Muskeln, Sehnen und Gelenke inklusive Rezeptoren nur für den einen Moment und Zweck da sind. Ergebnis: Goldmedaille für Wiktor Masin/UdSSR. Na also, klappt doch.

Nachrichtenquelle: geo.de

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