Artenvielfalt: "Friedhöfe sind das Beste, was das Anthropozän hervorgebracht hat"

Im Interview erzählt die Geoökologin Sigrid Tinz, warum letzte Ruhestätten oft Oasen des Lebens sind

GEO.de: Bei dem Titel Ihres neuen Buches, „Der Friedhof lebt“, kommt man leicht auf eine falsche Spur. Es geht nicht um Zombies, sondern um Artenvielfalt rund um die letzten Ruhestätten. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Sigrid Tinz: Ich bin von klein auf viel auf Friedhöfen gewesen. Meine Mutter hat die Gräber der Verwandtschaft gepflegt, und wir Kinder mussten mit und haben dann gespielt. Ich hatte nie Scheu vor Friedhöfen. Und als Geoökologin habe ich mich irgendwann gefragt, was dort eigentlich alles wächst.

Über welche Friedhofs-Tiere haben Sie bei Ihren Recherchen besonders gefreut?

Ich habe auf einem Friedhof die erste Blattschneide-Biene meines Lebens gesehen. Ich wusste zwar, dass es sie gibt, aber an mir war bis dahin noch nie eine mit einem Blatt „in der Hand“ vorbeigeflogen. In einem Wasserbecken für die Gießkannen habe ich mal Frösche entdeckt. Nach allem, was ich gelesen habe, gibt es auf Friedhöfen mehr Arten, und von diesen Arten mehr Individuen als sonst in der Gegend. Es sind auch Spezies dabei, die in der Region sogar nur auf Friedhöfen vorkommen. Und jede Menge Arten, die auf der Roten Liste stehen. Friedhöfe sind sehr menschliche Orte und gleichzeitig voll mit Natur: das Beste, was das Anthropozän hervorgebracht hat.

Im Garten ist Unordnung für Insekten und Vögel super. Auf dem Friedhof ist sie in der Regel eher unerwünscht …

Da gibt es Unterschiede, klar. Der Standard-Stadtteil-Friedhof hat Hecken, Gräber in Abteilen, geharkte Wege … In den Satzungen ist teilweise sogar geregelt, wie groß Zierkoniferen sein dürfen und wie die Wechselbepflanzung auszusehen hat. Es gibt aber auch riesige, alte Waldfriedhöfe, auf denen der Friedhofsgärtner nicht hinterherkommt. Da gibt es viel Platz, zum Beispiel für Brennnesseln und unaufgeräumte Stellen, wo sich auch Eidechsen wohlfühlen. Aber eines haben alle gemeinsam: sie sind Ruheinseln. Nachts gibt es wenig Licht, und Wildtiere kommen zwar rein, aber Kids mit ihren Fußbällen, radelnde Rentner und Junggesellenabschiede bleiben draußen.

Sucht alte Kriegsgräber gerne nach Moosen und Flechten ab: Geoökologin und Autorin Sigrid Tinz. Ihr Buch "Der Friedhof lebt!" ist im Pala-Verlag erschienen
Sucht alte Kriegsgräber gerne nach Moosen und Flechten ab: Geoökologin und Autorin Sigrid Tinz. Ihr Buch „Der Friedhof lebt!“ ist im Pala-Verlag erschienen
© privat

Tut mehr Artenvielfalt auch Trauernden gut?

Ich denke schon. Es hat doch etwas Tröstliches, wenn auf Opas Grabstein ein Rotkehlchen sitzt. Das berührt positiv. Und letztlich ist es ja auch noch preiswerter, die Wiesen ein bisschen verwildern zu lassen.

Ist das Thema Ökologie bei den Friedhofsverwaltungen angekommen?

Viele Friedhöfe wollen kundenfreundlicher, lebendiger und naturnäher werden. Sie reagieren damit auf den Trend zum Waldfriedhof, zum Friedwald oder Ruheforst. Manche sehen auch ihre Qualität als Arche in der Stadtwüste. In Dortmund war ich auf einem Friedhof, das ist eigentlich eine Streuobstwiese, wunderschön.Die zehn sehenswertesten Friedhöfe Europas (18943)

Es gibt auch immer mehr kirchliche Friedhöfe, die sich der Ökologie verschrieben haben, unter dem Motto „Bewahrung der Schöpfung“.

Was kann jeder Einzelne tun, um mehr Insekten und andere Tiere auf den Friedhof zu locken?

Das fängt mit der Bepflanzung an. Es gibt mehr als die typischen Friedhofspflanzen. Wobei Efeu zum Beispiel typisch Friedhof ist, aber auch großartig für Insekten und Vögel. Wenn man sein Grab mit ein bisschen Naturgartenkenntnis bepflanzt, so dass es immer grün ist und blüht und bewachsen ist, ist schon viel erreicht. Fragen Sie die Friedhofsverwaltung, was man anders machen kann. Wenn Flächen frei sind, kann man auch anregen, daraus eine Wildblumenwiese zu machen und Insektenhotels aufzustellen. Für größere Projekte sollte man sich natürlich Mitstreiter suchen, zum Beispiel bei den Naturschutzverbänden.

Haben Sie Beobachtungstipps für den Friedhof?

Suchen Sie sich eine schöne Stelle, setzen Sie sich ins Gras oder auf eine Bank, und schauen Sie, was passiert. Die Tiere, gerade die Vögel, sind oft nicht scheu und hopsen schon bald um einen herum. Mich zieht es als Moos- und Flechtenfreak immer zu den Kriegsgräbern. Die sind nicht so penibel gepflegt. Als Geoökologin finde ich auch die Betriebshöfe interessant. Da findet sich alles, was die Mitarbeiter von den Gräbern schaufeln, und zwischen alten Grabsteinen wachsen Pflanzengesellschaften querbeet.

Nachrichtenquelle: geo.de

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