weltberühmtes Kinderbuch: Die rätselhafte Entstehungsgeschichte von "Heidi"

Kaum ein Buch hat das Bild der Schweiz so geprägt wie „Heidi“. Die Autorin Johanna Spyri aber bleibt ein Rätsel

Draußen rauschen die Tannen. Mächtige Bäume, in denen der Sturm saust. Ein kleines Mädchen läuft hin und lauscht hinauf. Nichts erscheint ihm wunderbarer als „dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben“, wie es in Johanna Spyris weltbekanntem Kinderbuch „Heidi“ heißt.

Die Natur der Schweizer Alp wird zur Heimat der Protagonistin, einem fünfjährigen Waisenkind, das von einer Tante in die Obhut des fremden Großvaters gegeben worden ist: fernab der Zivilisation, mitten hinein in die so magische wie unbarmherzige Realität der Alpen. Und es ist diese reine, mächtige Natur, in die sich Millionen Leser und Leserinnen auf dem ganzen Globus flüchten werden.

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Als Johanna Spyri diesen Sehnsuchtsort erdichtet, sitzt sie weitab von den Bergen in ihrem Züricher Stadthaus unweit des Sees. Sie ist im Hirzel, in der sanft gewellten Hügellandschaft am Zürichsee, auf die Welt gekommen: am 12. Juni 1827, als viertes von sechs Kindern eines Arztes und einer pietistischen Dichterin. Die Stadt bleibt ihr das ganze Leben lang fremd.

Mit 25 Jahren heiratet sie den spröden wie schweigsamen Juristen Johann Bernhard Spyri, der bald zum Züricher Stadtschreiber ernannt wird. Johanna Spyri fühlt sich erdrückt von der steifen Gesellschaft und der traditionellen Rolle, die ihr darin als tadellose Hausfrau zukommt. In der Zeit um die Geburt ihres Sohnes Bernhard 1855 wird sie depressiv. Eine Flucht ist das Verfassen kleiner Geschichten von „einfachster Art“, wie sie an ihren engen Vertrauten, den Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer schreibt.

Eine Entstehung voller Rätsel

Ihre ersten Erzählungen handeln von gewalttätigen Männern und aufopferungsvollen Frauen und erscheinen, vermittelt durch einen befreundeten Theologen, zunächst im Bremer Kirchenblatt, dann in zwei Verlagen der Hansestadt. 1877 wird der renommierte Verleger Emil Perthes in Gotha auf die Schriftstellerin aufmerksam. Zwei Jahre später erscheinen dort anonym „Heidis Lehr- und Wanderjahre“.

Die Entstehung jedoch ist voller Rätsel. Spyri muss das Buch innerhalb weniger Wochen verfasst haben – aber in ihren Briefen erwähnt sie es nicht. Nur so viel ist bekannt: Sie ist 1879 viel beschäftigt, plant, den Sommer zu Hause zu verbringen. Ihr Sohn ist krank und auf Kur. Spyri will die Zeit nutzen, putzen, räumen, vielleicht einmal eine „Spritztour“ unternehmen.

Gut möglich, dass ein Ausflug sie zu einer Bekannten in der Nähe von Maienfeld am Fuß der Alpen führt. Im Roman schickt sie Heidi jedenfalls auf einen Pfad, der sich vom „freundlich gelegenen, alten Städtchen Maienfeld“ über die Bergkräuterwiesen bis hin zur Hütte des „Alp-Öhi“ schlängelt. Dann auf einmal bemerkt sie Ende Oktober unvermittelt im Brief an eine Freundin: „Auf Weihnacht kommt eine Kindergeschichte.“

„Heidi“ wird ein Überraschungserfolg. Auf dem Umschlag ist der Name der Autorin nicht genannt; erst in den nächsten Auflagen wird der Verlag ihren Namen voll ausschreiben. Ein Jahr später legt sie die erfolgreiche Fortsetzung vor.

Ein tröstliches Heilsversprechen in einer zerstörten Welt

Zwar veröffentlicht Johanna Spyri noch andere Kinder- und Jugendbücher, bleibt jedoch als Autorin in der Schweiz lange unbekannt. 1884 sterben ihr Sohn und ihr Mann, sie selbst erliegt 17 Jahre später einem Krebsleiden. Ihre Beisetzung im Hochsommer 1901 findet in aller Stille statt. Und erst 1918 erscheint ihr Erfolgsroman schließlich auch in ihrer Heimat.

Anders als ihre Schöpferin wird „Heidi“ weltbekannt: Spyris romantisierendes Buch vom kargen, aber gesunden Bergbauernleben ist ein perfekter Gegenentwurf zur immer weiter um sich greifenden Industrialisierung. Die Sehnsucht nach dem Alpenidyll ist groß. Der Schweizer Charles Tritten dichtet die Saga in den 1930er Jahren in mehreren Bänden fort. 1937 kommt die Verfilmung mit dem US-amerikanischen Kinderstar Shirley Temple in die Kinos.

In den Nachkriegsjahren ist „Heidi“ ein tröstliches Heilsversprechen in einer zerstörten Welt. Ende der 1960er Jahre wirbt die Fluggesellschaft Swissair mit ihr in den USA. „Heidi“ wird in mehr als 50 Sprachen übersetzt und 50-millionenfach verlegt.

Und spätestens seit der japanischen Zeichentrickserie von 1974 kennt jedes Kind das kleine Waisenmädchen von der Alp – das Johanna Spyri, die mit ihrem Buch wie keine Zweite das Idealbild von der Schweiz im Ausland geprägt hat, einst ersann.

Nachrichtenquelle: geo.de

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